Die Bruderschaft der Runen
Tafeln. Sie werden sehen, es wird wunderbar, Mylady.«
»Und wer weiß«, fügte Mary mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »vielleicht findet sich dort ja auch ein hübscher junger Mann für dich.«
»Mylady!«, hauchte die Zofe und wurde rot. Sie hätte sich gegen diese Unterstellung entschieden verwehrt, wären nicht in diesem Augenblick jenseits des Hügels, den die Kutsche erklomm, die Mauern von Burg Ruthven aufgetaucht.
»Sehen Sie nur, Mylady! Wir sind da!«
Mary blickte durch die beschlagenen Scheiben. Es war unbehaglich kalt in der Kutsche; die Feuchtigkeit, die vom Boden aufstieg und sich als klammer Nebel über die kargen, erdfarbenen Hügel gelegt hatte, schien durch alle Ritzen zu kriechen und ließ die Frauen frösteln. Und der Anblick von Burg Ruthven trug wahrlich nicht dazu bei, die Kälte zu vertreiben.
Mauern aus Naturstein, so dick und mächtig, als stünden sie schon seit Anbeginn der Zeiten dort, erhoben sich aus dem zähen Nebel. Dahinter ragte ein trutziger Hauptturm auf, der mit schroffen Zinnen bewehrt war und an den sich ein mehrstöckiges Burghaus anschloss, aus dessen hohen Fenstern fahles Licht schimmerte. Auf der rechten Seite der mächtigen Anlage ragten Wehrtürme aus der Mauer und sicherten sie nach Osten, wo das Land in sanften Erhebungen verlief und von einem schmalen Wasserlauf geteilt wurde. Zur anderen Seite fiel die Erhebung, auf der Burg Ruthven stand, steil ab; ein felsiger Abgrund klaffte jenseits der Mauer, die im Westen von einem hohen Wachturm gekrönt wurde. Ein wuchtiger Söller zweigte davon ab, auf dem Mary eine schemenhafte Gestalt zu erkennen glaubte, dunkel und gedrungen. Im nächsten Moment war die Gestalt wieder verschwunden, und Mary war sich nicht sicher, ob sie nicht einer Täuschung erlegen war.
Die Kutsche hatte jetzt den Grat der Anhöhe erklommen. Die holprige Straße führte auf das große Tor zu, das in der Ummauerung klaffte. Darüber ragten die wuchtigen Ausleger einer hölzernen Zugbrücke aus der Mauer, die über den breiten Graben führte, welcher die Burg umlief und im Westen in die Schlucht mündete.
Als sich die Kutsche näherte, öffneten sich die Türflügel wie von Geisterhand.
Mary und ihre Zofe tauschten einen Blick. Keine der beiden Frauen sagte etwas, doch der erste Eindruck, den Burg Ruthven bot, war alles andere als einladend. So sehr sich Mary mühte, die Dinge in einem positiven Licht zu betrachten – sie konnte nicht anders, als in dem sich öffnenden Burgtor ein riesiges, gähnendes Maul zu sehen, das sie und Kitty zu verschlingen drohte.
Je näher die Kutsche den Burgmauern kam, desto höher und drohender ragten sie auf. Beklommen redete sich Mary ein, dass die Düsternis, die von diesem Ort ausging, allein dem ungastlichen Wetter zuzuschreiben war. Hätte die Sonne vom Himmel gelacht und wären die Hügel von Blumen übersät gewesen, wäre der Eindruck gewiss ein anderer gewesen. So jedoch wirkte alles trist, traurig und tot.
Wehmütig musste Mary an Abbotsford denken, an die Gärten, die Lady Charlotte ihr gezeigt hatte, an die saftigen Wiesen, die sich entlang des Tweed erstreckten. Ihr Leben lang würde sie die Stunden, die sie im Haus der Scotts verbracht hatte, nicht vergessen. Die Erinnerung daran half ihr ein wenig, die Düsternis des Augenblicks zu vertreiben.
Die Kutsche erreichte das Burgtor. Hohl und dumpf tönte es, als die Hufe der Pferde über die Zugbrücke klapperten und das Gewölbe des Torhauses passierten. Schlagartig wurde es dunkel im Innern der Kutsche. Ein Gefühl innerer Unruhe beschlich Mary, und auch über Kittys eben noch so unbekümmertes Wesen legte sich ein Schatten.
Auch als die Kutsche das Burgtor passiert hatte, wurde es nicht wesentlich heller; die Droschke mit den beiden Frauen fuhr in einen von Mauern umgebenen Innenhof, dessen Stirnseite vom trutzigen Haupthaus begrenzt wurde. Zu beiden Seiten lagen gedrungene Gebäude mit Stallungen und Unterkünften, jedoch war nirgendwo auch nur eine Menschenseele zu sehen.
Endlich kam die Kutsche zum Stehen. Die Pferde verharrten, und Mary glaubte, die Tiere unruhig schnauben zu hören. Der Kutscher, den Walter Scott mitgeschickt hatte, stieg vom Bock und klappte die Stiegen aus, dann öffnete er die Tür.
»Mylady – wir sind am Ziel. Burg Ruthven.«
Mary nahm die Hand, die der Kutscher ihr reichte, und stieg aus. Dabei raffte sie ihre Röcke, wie es sich für eine Dame schickte, damit der Saum nicht schmutzig wurde.
Kalte, feuchte
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