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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Luft schlug ihr entgegen. Eingeschüchtert blickte sie sich um, sah nichts als graue, düstere Mauern aus Stein. Neben dem Westturm erhob sich der Söller, aber die Gestalt blieb verschwunden; wahrscheinlich hatte Mary sie sich ohnehin nur eingebildet.
    Am Haupthaus öffnete sich jetzt das Tor, und eine schlanke Frau trat heraus. Gemessenen Schrittes kam sie die Stufen zum Hof hinab, wobei jede ihrer Bewegungen Würde und Anmut verriet. Zwei Diener begleiteten sie mit gesenktem Blick. Aus dem Stall huschten gebückte Gestalten heran, die sich um Kutsche und Pferde kümmerten, dabei jedoch jeden Blickkontakt mit der Besucherin vermieden.
    Die schlanke Frau, die ein weites Kleid aus silbern schimmerndem Brokat trug, kam auf Mary zu. Sie war nicht mehr so jung, wie ihr Wuchs und ihre Haltung glauben machen wollten. Ihr Haar, das sie streng hochgesteckt trug, war ergraut, die Haut, die nach altem Brauch gepudert war, von Falten zerfurcht. Die blassen, hageren Züge waren scharf geschnitten, der Blick ihrer eng stehenden Augen wach und forschend. Eine Schönheit war diese Frau wohl niemals gewesen, doch es ging etwas Respektgebietendes von ihr aus, das Mary schon bei ihrer letzten Begegnung aufgefallen war, als sie nach Egton gekommen und ihre zukünftige Schwiegertochter begutachtet hatte.
    Mary kannte diese Frau – es war Eleonore of Ruthven, die Mutter ihres zukünftigen Ehemannes.
    Gemessenen Schrittes kam die Herrin von Ruthven auf Mary zu. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, verriet weder Freude noch Zuneigung. Stattdessen streckte sie die Hand aus, um sich von der jüngeren Frau nach alter Sitte huldigen zu lassen.
    Mary wusste, was von ihr erwartet wurde. Von frühester Jugend an hatte man es ihr beigebracht, und wenn sie von den Bräuchen der alten Zeit auch nicht allzu viel hielt, fügte sie sich doch der Etikette. Sie nahm Lady Eleonores Hand und verbeugte sich tief, senkte ihr Haupt, bis die Herrin der Burg ihr gestattete, sich wieder zu erheben.
    »Steh auf, mein Kind«, sagte sie, und für Mary und ihre Zofe hörte es sich an, als hätte der raue, kalte Nebel plötzlich eine Stimme bekommen. »Willkommen auf Burg Ruthven.«
    »Ich danke Ihnen, Mylady«, sagte Mary und erhob sich gehorsam.
    »So sehen wir uns also wieder. Du bist noch schöner geworden seit unserer letzten Begegnung.«
    Mary verbeugte sich noch einmal. »Mylady sind sehr nachsichtig mit mir. Die Fährnisse einer langen Reise liegen hinter mir, die sicher ihre Spuren hinterlassen haben.«
    »Eine Lady hat immer eine Lady zu sein, mein Kind. Hat deine Mutter dir das nie gesagt?«
    »O doch, Mylady.« Mary seufzte. »Viele Male.«
    »Unsere Abstammung ist es, die uns vom gewöhnlichen Volk unterscheidet, mein Kind, vergiss das nie. Bei einfachen Leuten mag eine Reise durch die Highlands Spuren hinterlassen, aber nicht bei uns.«
    »Nein, Mylady.«
    »Disziplin, mein Kind. Was du bisher davon gelernt hast, wird dir in Ruthven von großem Nutzen sein. Und was du bisher davon hast missen lassen, wirst du hier lernen.«
    »Wie Sie wünschen, Mylady.«
    »Wo ist dein Gepäck?«
    »Ich bedauere, Mylady, aber ich habe nicht viel Gepäck. Das meiste davon ging bei einem Unfall verloren, den mein erster Kutscher mit dem Leben bezahlte.«
    »Wie entsetzlich!«, rief Eleonore aus und schlug die Hände vor das bleiche Gesicht. »Deine Kleider sind alle verloren? Die Seide? Der Brokat?«
    »Mit Verlaub, Mylady – meine Zofe und ich können von Glück sagen, dass wir mit dem Leben davongekommen sind. Das Wenige, das wir besitzen, haben wir von mildtätigen Menschen erhalten, die uns in ihr Haus aufgenommen haben.«
    »Allmächtiger!« Die Burgherrin starrte Mary an, als hätte sie den Verstand verloren. »Die Kleider, die du trägst, sind nicht deine eigenen?«
    »Nein«, gestand Mary. »Uns ist nichts geblieben.«
    »Welch eine Schmach! Diese Schande!«, stöhnte Eleonore. »Die zukünftige Frau des Lairds of Ruthven zieht als Bettelmaid durch die Lande!«
    »Mit Verlaub, Mylady, so ist es nicht gewesen.«
    »Nein? Und was befindet sich in den Koffern, die dein Kutscher gerade ablädt? Noch mehr Kleider aus mildtätiger Hand?«
    »Bücher«, verbesserte Mary lächelnd.
    »Bücher?« Die eisige Stimme überschlug sich.
    »Eine Sammlung alter Klassiker. Ich lese gern.«
    »Und womöglich auch viel?«
    »Wenn mir dazu die Zeit bleibt – ja.«
    »Nun, hier auf Burg Ruthven wirst du dazu nicht viel Gelegenheit finden. Du wirst feststellen, dass das Leben der

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