Die Bruderschaft der Runen
hier vieles geben, das ihr eigentümlich und fremd vorkam. Aber anderes war ihr auf seltsame Weise vertraut – so wie sie es für einen kurzen Augenblick empfunden hatte, als sie vom Grenzpunkt Carter Bar auf die Lowlands geblickt hatte.
Sicher hatte auch die Lektüre von Sir Walters Werken dazu beigetragen, dass Mary sich Schottland mehr denn je verbunden fühlte. In seiner Großzügigkeit hatte er ihr eine Gesamtausgabe seiner bislang erschienenen Romane und Verse geschenkt, und während der vergangenen sechs Tage hatte Mary kaum etwas anderes getan, als zu lesen – sehr zum Leidwesen Kittys, die Bücher nicht leiden konnte und sich mit ihr lieber über Kleider und Klatsch unterhalten hätte.
Mary jedoch fand durch Sir Walters Bücher Zugang zu ihrer neuen Heimat. Sie glaubte nun, manches besser zu verstehen, und hatte das Gefühl, den Rhythmus des schottischen Herzens schlagen zu hören, wie Sir Walter es genannt hatte. Manche seiner Bücher las sie schon zum wiederholten Mal, doch erst jetzt erfasste sie ihre wahre Bedeutung. In der Beschreibung entschwundener Epochen, in der Schilderung der Figuren und ihres Handelns, in der Sprache, mit der Sir Walter von edlen Recken und zarten Frauen erzählte, lag etwas vom Edelmut und von der Würde dieses alten, sehr alten Landes. Und mit einem Mal war Mary stolz, ein Teil davon werden zu können.
Noch vor wenigen Tagen war ihr die Reise nach Ruthven wie ein Gang ins Exil vorgekommen; sie hatte sich als ungeliebte Tochter gefühlt, die in die Fremde gegeben wurde, damit sie sich einfügen sollte.
Nun jedoch verstand sie ihr Schicksal als eine Gelegenheit. Vielleicht war es ihr ja bestimmt, hier im Norden des Reiches ein neues, erfüllteres Leben zu beginnen. Möglicherweise würde Burg Ruthven ihr mehr Heimat sein, als Schloss Egton es je gewesen war; und vielleicht würde sie in Malcolm of Ruthven die Liebe ihres Lebens finden.
Sie war entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Selbst die dunklen Wolken, die den Himmel verhingen, als die Kutsche am Morgen Rattray verließ, konnten sie nicht einschüchtern. Die letzte Etappe der Reise war die kürzeste. Nur noch rund zwanzig Meilen waren bis Burg Ruthven zurückzulegen, und mit jedem Markierungsstein, den die Kutsche passierte, pochte Marys Herz lauter.
»Sind Sie aufgeregt, Mylady?«, erkundigte sich Kitty, die die Körpersprache ihrer Herrin gut zu deuten wusste. So war ihr auch nicht verborgen geblieben, dass Lady Marys Laune sich in den letzten Tagen merklich gebessert hatte.
»Natürlich, und das wärst du auch an meiner Stelle! Immerhin werde ich schon bald den Mann treffen, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde.«
»Sie haben den Laird of Ruthven wirklich noch nie gesehen?«
»Nein.«
»Nicht einmal auf einem Gemälde?«
»Auch das nicht.«
»Dann will ich Ihnen verraten, was man sich von ihm erzählt«, sagte Kitty und beugte sich vor, als wollte sie nicht, dass man sie belauschte. »Man erzählt sich, der Laird sei sehr gut aussehend und eine Zierde seines Geschlechts. Außerdem ist er sehr begütert und ein Mann von Kultur. Und obgleich er gebürtiger Schotte ist, sagt man, dass er die englischen Sitten verinnerlicht habe und ein Gentleman reinsten Wassers sei.«
»So?«, fragte Mary und hob skeptisch die Brauen. »Und das erzählt man sich?«
Kitty, die kein Geheimnis lange für sich behalten konnte, errötete und schüttelte den Kopf. »Nein, Mylady«, gestand sie. »Ich habe Ihnen das nur erzählt, weil ich nicht möchte, dass Sie sich Sorgen machen. Es wird alles gut werden, Sie werden schon sehen. Sie müssen nur fest daran glauben.«
Mary musste lächeln. Kittys Besorgnis war rührend, ebenso wie ihr naives Vertrauen in das Schicksal. Aber vielleicht hatte sie ja Recht. Hätte jemand Mary vor ein paar Tagen gesagt, dass sie Walter Scott begegnen werde, hätte sie das niemals für möglich gehalten. Dennoch war es geschehen, und das mochte ein Zeichen dafür sein, dass es vielleicht doch noch Hoffnung gab. Hoffnung auf ein schöneres, freieres Leben ohne die Zwänge, die hinter ihr lagen. Vielleicht würde sie auf Burg Ruthven ihr Glück finden.
»Also gut, liebe Kitty«, sagte sie deshalb. »Ich werde auf mein Geschick vertrauen und abwarten, was mich auf Burg Ruthven erwartet. Vielleicht erleben wir dort die schönsten Tage unseres Lebens.«
»Natürlich«, erwiderte die Zofe und kicherte vergnügt. »Bälle und Empfänge, schöne Kleider und festlich gedeckte
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