Die Bruderschaft des Feuers
seiner Tasche und gab sie ihm. Marcello da Verona entrollte sie ehrfürchtig, als wäre es ein künstlerisches Meisterwerk. Um sie besser betrachten zu können, ging er in einen helleren Teil des Chors, wo die bunten Glasfenster das graue Tageslicht in ein prächtiges Farbenspiel verwandelten. Darauf nahm er auf einer dunklen Bank Platz und lud Mondino ein, sich neben ihn zu setzen. »Im Sitzen redet es sich besser«, sagte er, und jetzt lag wieder ein Lächeln auf seinen Lippen. »Und könnte es einen besseren Ort geben als den Chor einer Kirche, um über Musik zu sprechen?«
Eigentlich hätte Mondino ihm eine Vielzahl anderer Plätze nennen können. Hier drinnen hallte jedes Wort laut wie ein Schrei und machte eine normale Unterhaltung fast völlig unmöglich. Doch diesmal hütete er sich davor, etwas einzuwenden, und nahm neben dem Mönch Platz.
»Ich stimme mit Pater Cherubino überein«, sagte Marcello da Verona. »Die punktförmigen Verletzungen scheinen sich wirklich auf die Tonleiter zu beziehen. Und der Gedanke, dass das abgewandelte chrismon in der Mitte der Handfläche einen Hinweis auf einen christlichen Sänger aus Rom geben will, der zum Mithraskult übergetreten ist, ist einleuchtend. Aber habt Ihr schon einmal daran gedacht, dass die Zeichnung auch ein Hinweis auf die Art und Weise sein könnte, wie dieser Mann tötet?«
Mondino nickte. »Selbstverständlich habe ich darüber nachgedacht. In beiden Fällen haben Leute, die in der Nähe waren, ein Geräusch gehört, das sie als eine Art Gesang ohne Worte beschrieben haben, hohe modulierte Töne. Der Zusammenhang mit der Guidonischen Hand ist offensichtlich.« Er schwieg einen Moment, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Doch mehr hat sich mir nicht erschlossen.«
»Ich dagegen hatte mir diesbezüglich schon eine Meinung gebildet«, sagte Pater Marcello erfreut. »Und die Zeichnung, die Ihr mir gerade gezeigt habt, ist das Mosaiksteinchen, das mir zu meiner Theorie noch fehlte.«
»Tatsächlich?« In Mondinos Gesicht stand die blanke Verblüffung. »Dann erläutert sie mir bitte.«
»Habt Ihr jemals von der Macht der alten persischen Weisen und Magier gehört?«
»Meint Ihr etwa die Drei Weisen, die der Komet aus dem Morgenland geleitete, damit sie das Jesuskind anbeten konnten?«
Der Inquisitor lächelte. »Ja, die auch. Aber nicht nur diese. Die persischen Magier beherrschten das Feuer. Das bezeugen alle alten Quellen. Ohne Zünder und Feuerstein konnten sie Flammen entstehen lassen, die tagelang brannten.«
»Und Ihr glaubt das?«, fragte Mondino.
»Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Auch mehrere christliche Geschichtsschreiber berichten davon. Aber keiner von ihnen hat erzählt, wie die Magier diese Feuer entzündeten. Jetzt haben wir zum ersten Mal eine mögliche Erklärung dafür.« Der Dominikaner sah Mondino mit fiebrig glänzenden Augen an wie jemand, der glaubt, soeben eine Wahrheit entdeckt zu haben. »Mit einem Gesang.«
»Ein Gesang«, wiederholte der Arzt und achtete sorgfältig darauf, seiner Stimme nichts anmerken zu lassen. Doch er konnte seine Zweifel nicht verbergen.
»Denkt noch einmal darüber nach, ehe Ihr Euren Verstand einer solchen Möglichkeit verschließt«, sagte der Mönch. »Gesang hat eine große Macht.«
»Das bezweifle ich nicht. Schon immer haben Verliebte Lieder ersonnen, um in der Angebeteten das Feuer der Leidenschaft zu entflammen. Aber ein echtes Feuer zu entfachen, das in der Lage ist, sogar Knochen zu Asche zu verbrennen …«
Pater Marcello machte eine brüske Handbewegung, während sein Gesicht sich verfinsterte. »Die Macht des Gesangs ist etwas sehr Konkretes, eine Frage der Physik und Mathematik«, erklärte er. »Ich rede hier nicht von Liebesliedern, sondern von den himmlischen Sphären, von deren göttlicher Musik und dem Konzept der Resonanz.«
Mondino war auf dem Gebiet der Physik nicht gänzlich unbewandert. Er kannte Pythagoras und seine Theorie vom Monochord, hatte Platon gelesen und erinnerte sich an Passagen aus Der Staat und Kratylos , in denen der Philosoph behauptete, dass alle Planeten und Fixsterne einen eigenen Klang von sich geben und so das erzeugen würden, was er als »Sphärenmusik« bezeichnete. Und selbstverständlich hatte er Aristoteles studiert und seine nach der These des Eudoxos von Knidos entwickelte Theorie über die Kristallsphären, jene durchsichtigen Kugeln, die das Universum bilden und die Himmelskörper tragen und von denen in
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