Die Bruderschaft vom Heiligen Gral 01 - Der Fall von Akkon
den Ruinen des salomonischen Tempels die heilige Lanze gefunden«, lautete die Antwort des Gralshüters. »Was also nur Legende ist«, folgerte Gerolt. Abbé Villard nickte. »Sie wurde nie gefunden und das verwundert auch nicht, wenn man sich den Ablauf von Jesu Kreuzigung einmal genau vergegenwärtigt.« »Wieso?«, fragte Tarik mit gerunzelter Stirn. »Es ist doch ein römischer Soldat gewesen, der Jesu die Lanze in die Seite gestochen hat, um zu prüfen, ob er noch lebte oder schon tot war. Wie hätte da ein jüdischer Bürger wie Joseph von Arimathäa, auch wenn er die ehrenvolle Stellung eines Ratsherrn bekleidete, ihm die Lanze einfach so abnehmen können? Er hatte dazu weder die Autorität noch die Zeit, war er doch vollauf damit beschäftigt, Jesus vom Kreuz abzunehmen und den Leichnam noch rechtzeitig vor Sonnenuntergang zu Grabe zu legen, wie es die jüdische Religion verlangt. Denn am selben Abend begann der heilige Sabbat, und sowie sich die ersten Sterne am Himmel zeigten, war jegliche Arbeit nach dem Gesetz streng untersagt. Nein, die Geschichte mit der heiligen Lanze, die ein Kreuzfahrer in den Ruinen gefunden haben will, ist nichts weiter als eine Legende. Und das gilt ebenso für tausend angeblich heilige Reliquien, die in christlichen Kirchen aufbewahrt werden und das Ziel von frommen Pilgern sind.« »Das ist ja alles höchst interessant«, bemerkte Maurice trocken. »Aber habt Ihr uns nicht zum Heiligen Gral führen wollen? Nur kann ich hier nirgends einen Schrein entdecken.« »Das dürfte dir auch schwerfallen, weil er sich in diesem Raum gar nicht befindet«, teilte ihnen der Gralshüter zu ihrer aller Überraschung mit. »Dies ist nur der Vorraum der heiligen Grotte, in welcher der Quell des ewigen Lebens seine letzte Zuflucht im Heiligen Land gefunden hat.« Und noch während er sprach, presste er die Hand gegen eines der schwarzen Kreuze, das augenblicklich aus dem Wandmosaik hervorsprang. Es war mit einem zwei Finger dicken Eisenschaft verbunden, der sich nun mit dem Kreuz unter dem Zugriff des Gralshüters um eine Vierteldrehung in der Wandfassung bewegte. Im selben Moment fiel irgendwo dahinter mit einem dumpfen Laut Metall schwer auf Metall – und an der Stirnseite des scheinbar abgeschlossenen Raumes zeichneten sich im Mosaik die Umrisse einer Tür ab. Der Gralshüter lächelte über ihre sprachlosen Gesichter. »Kommt!«, rief er ihnen zu und drückte die sichtlich schwere Tür nach innen auf. »Ihr seid auserwählt, die heilige Grotte zu betreten und die erste Weihe als Gralsritter zu empfangen!«
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Hatte schon die Grabstätte des Joseph von Arimathäa mit ihrem kreuzförmigen Grundriss und dem kunst vollen, allumschließenden Mosaik ihre Erwartungen bei Weitem übertroffen und sie in großes Erstaunen versetzt, so überwältigte sie der Anblick der heiligen Grotte nun vollends. Sie bekamen eine Gänsehaut, als sie in sprachloser Ergriffenheit dem Gralshüter in das Innere des Heiligtums folgten. Nicht in ihren kühnsten Gedanken hätten sie es für möglich gehalten, dass sie einen Ort von solch einzigartiger Schönheit so tief unter der Erde vorfinden würden. Was Abbé Villard eine heilige Grotte genannt hatte, stellte sich als ein gewaltiges, unterirdisches Gewölbe mit einer Deckenhöhe von bestimmt fünf-bis sechsfacher Manneslänge heraus. Es hatte die Form einer Rotunde mit einem Durchmesser von gut vierzig Schritten und lag im Licht einer Vielzahl von bronzenen Öllampen. Hinter dem äußeren Kreis des Umgangs strebten acht geriffelte hellgraue Doppelsäulen mit korinthischen Kapitellen der gewölbten Decke entgegen. Diese schlanken Doppelsäulen, die ein Mann gerade noch umfassen konnte und die durch kleine Rundbögen miteinander verbunden waren, bildeten wie der Umgang einen perfekten, inneren Kreis um das Heiligtum der Grotte. Denn in seinem Zentrum und damit genau unter der Mitte des Deckengewölbes erhob sich auf einem dreistufigen Sockel der Altar. Er bestand aus leuchtend weißem Marmor, der wie poliertes Perlmutt glänzte. Zwei goldene, fünfarmige Kerzenleuchter rahmten ein ebenfalls goldenes, gut anderthalb Ellen hohes Kruzifix ein. Vor dem Kreuz stand ein merkwürdiger schwarzer Würfel, dessen Höhe, Breite und Tiefe nicht ganz zwei Handlängen betrug. Aus Gold gearbeitete und mit Smaragden besetzte Winkel verzierten die acht Ecken. Die vordere Seite dieses seltsamen schwarzen Quaders schmückte eine kostbare Einlegearbeit aus Elfenbein in Form einer
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