Die Bruderschaft
seines Lebens. Es war auch beinahe der letzte seines Lebens, und hätte er seinen Arzt erreichen können, wäre es tatsächlich der letzte gewesen. Doch der Arzt war verreist und Quince sah keine Möglichkeit, sich ein Rezept für Schlaftabletten zu besorgen. Zum Selbstmord mit dem Revolver fehlte ihm der Mut.
Dabei hatte der Tag so angenehm begonnen: ein spätes Frühstück, bestehend aus einer Schale Haferflocken, allein am Kamin im Wohnzimmer. Seine Frau, mit der er seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war, hatte sich bereits auf den Weg in die Stadt gemacht, wo sie einen weiteren Tag mit Wohltätigkeitstees, Sammelaktionen und allerlei anderen philanthropischen Kleinstadtaktivitäten verbringen würde, die sie beschäftigt hielten und dafür sorgten, dass sie ihm nicht begegnete.
Es schneite, als er das große, protzige Bankiershaus am Rand von Bakers, lowa, verließ und in seinem langen, schwarzen, elf Jahre alten Mercedes in die Stadt fuhr. Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. In Bakers war Quince ein bedeutender Mann, ein Garbe, ein Mitglied der Familie, der seit Generationen die Bank gehörte. Hinter der Bank, die an der Main Street lag, stellte er den Wagen auf dem reservierten Parkplatz ab und machte einen kurzen Umweg zum Postamt - etwas, das er zweimal pro Woche tat. Seit Jahren hatte er dort ein Postfach, um seine private Korrespondenz vor den Blicken seiner Frau und erst recht vor denen seiner Sekretärin zu verbergen.
Weil er, im Gegensatz zu den meisten Leuten in Bakers, lowa, reich war, sprach er auf der Straße nur selten mit anderen. Was sie von ihm hielten, war ihm gleichgültig. Sie verehrten seinen Vater und das reichte, um das Bankgeschäft in Gang zu halten.
Doch wenn der Alte starb, würde er dann gezwungen sein, sich grundlegend zu ändern ? Würde er bei jedem Gang durch Bakers nach rechts und links lächeln und dem Rotary Club beitreten müssen, den sein Großvater gegründet hatte?
Quince war es leid, von der wankelmütigen Sympathie seiner Mitbürger abhängig zu sein. Er war es leid, ständig mit der Nase darauf gestoßen zu werden, dass es der Einsatz seines Vaters war, der die Zufriedenheit der Kunden sicherte. Er war das Bankgeschäft leid, er war lowa leid, er war den Schnee leid, er war seine Frau leid. Was Quince sich an diesem Februarmorgen mehr als alles andere wünschte, war ein Brief von seinem geliebten Ricky. Ein netter kleiner Brief, in dem Ricky ihr Rendezvous bestätigte.
Quince sehnte sich nach drei warmen Tagen voller Liebe und Leidenschaft, nach einer Kreuzfahrt mit Ricky. Vielleicht würde er nie zurückkehren.
Bakers hatte 18 000 Einwohner und daher herrschte im Hauptpostamt an der Main Street gewöhnlich viel Betrieb. Und am Schalter stand jedes Mal ein anderer Angestellter. So hatte Quince auch das Postfach gemietet: Er hatte gewartet, bis ein neuer Mitarbeiter Dienst hatte. Der offizielle Inhaber des Postfachs war GMT Investments. Quince ging schnurstracks zu seinem Fach, das sich zusammen mit Hunderten anderer Postfächer in der Wand eines Nebenraums befand.
Es waren drei Briefe darin, und als er sie herausnahm und in die Manteltasche steckte, setzte sein Herz für einen Schlag aus, denn er sah, dass einer der Briefe von Ricky war. Er eilte hinaus und betrat wenige Minuten später, um genau zehn Uhr, die Bank. Sein Vater war bereits seit vier Stunden da, doch sie hatten aufgehört, sich wegen Quinces Arbeitsauffassung zu streiten. Wie immer blieb er am Schreibtisch seiner Sekretärin stehen und streifte eilig die Handschuhe ab, als erwarteten ihn dringliche Aufgaben. Sie reichte ihm seine Post und zwei Zettel mit Telefonnachrichten und erinnerte ihn daran, dass er in zwei Stunden eine Verabredung zum Mittagessen mit einem örtlichen Immobilienmakler hatte.
Er verschloss seine Bürotür hinter sich, warf die Handschuhe auf einen Sessel, den Mantel auf einen anderen und riss den Umschlag von Rickys Brief auf. Dann setzte er sich auf das Sofa und holte die Lesebrille hervor. Er atmete schwer -nicht vor Anstrengung, sondern aus Vorfreude. Als er zu lesen begann, spürte er eine leichte sexuelle Erregung.
Die Worte trafen ihn wie Revolverkugeln. Nach dem zweiten Absatz stieß er ein eigenartiges, schmerzerfülltes »Ooohhh« aus. Dann sagte er ein paar Mal: »Oh Gott!« Und schließlich zischte er: »Dieser Hundesohn!«
Still, befahl er sich, die Sekretärin lauscht immer. Als er den Brief das erste Mal las, war er entsetzt, beim zweiten Mal war er
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