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Die Brücke am Kwai

Die Brücke am Kwai

Titel: Die Brücke am Kwai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Boulle
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der einen Beruf wie Shears ausübt, nimmt rein instinktiv und sehr schnell den Gleichklang der Naturkräfte zur Kenntnis. Das ist ihm schon zwei- oder dreimal von Nutzen gewesen. Das Brausen der Strömung, das ganz besondere Rauschen, mit dem das Wasser über den Sand spült, das Knacken der ins Wasser getauchten Zweige, wenn die Strömung sie streift, diese Gesamtheit an Lauten bringt heute morgen ein ganz anderes, weniger lärmendes Konzert zustande… ,jawohl, ganz gewiß nicht so lärmend wie in der Nacht vorher. Shears fragt sich allen Ernstes, ob er nicht im Begriff ist, taub zu werden. Oder sind seine Nerven in einem so schlechten Zustand?
    Doch der Thailänder kann nicht zur gleichen Zeit auch taub geworden sein. Und dann ist da noch etwas. Mit einem Schlage kommt ihm eine andere Empfindung zum Bewußtsein. Auch der Geruch hat sich geändert. Der Geruch des Kwai-Flusses ist heute morgen nicht mehr der gleiche. Jetzt sind es Ausdünstungen von feuchtem Sumpfboden, die vorherrschen, fast als wäre man am Ufer eines Teiches.
    »River Kwai down!« ruft plötzlich der Thailänder aus.
    Und da das Licht beginnt, die Einzelheiten auf dem gegenüberliegenden Ufer erstehen zu lassen, kommt Shears plötzlich eine Offenbarung. Der Baum, der große rötliche Baum, hinter dem sich Joyce versteckt hält . seine Zweige tauchen nicht mehr ins Wasser. Der Kwai-Fluß ist gesunken.
    Der Wasserspiegel ist in der Nacht gefallen. Um wieviel? Vielleicht um einen Fuß? Vor dem Baum tritt unten am Ende der steilen Böschung jetzt ein mit Kies bedeckter Strand hervor, der noch von Wassertropfen bedeckt ist, die in der aufgehenden Sonne funkeln.
    In dem Augenblick, der seiner Entdeckung folgt, spürt Shears ein Gefühl der Genugtuung, die Erklärung für sein Unbehagen gefunden zu haben, und faßt wieder Vertrauen zu seinen Nerven. Er hat richtig empfunden. Er ist noch nicht verrückt. Die Strömung ist nicht mehr die gleiche, weder die des Wassers noch die der Luft über ihm. Die gesamte Atmosphäre ist tatsächlich anders geworden. Das neu zum Vorschein gekommene noch feuchte Land erklärt diesen Modergeruch.
    Katastrophen drängen sich niemals plötzlich auf. Die geistige Trägheit verlangt eine gewisse Zeitspanne. Nach und nach erst kommen Shears die unglückseligen Folgen dieser banalen Tatsache zum Bewußtsein.
    Der Kwai-Fluß ist gesunken! Vor dem rötlichen Baum ist jetzt eine breite Landfläche, die gestern unter Wasser lag, zu sehen. Der Draht… der elektrische Draht…! Shears stößt einen gemeinen Fluch aus. Der Draht… Er hat sein Fernglas herausgezogen und durchsucht gierig den festen Abschnitt, der in der Nacht zum Vorschein gekommen ist.
    Der Draht ist da. Ein langes Stück ist jetzt auf dem Trockenen. Shears folgt ihm mit den Augen vom Uferrand bis zur Böschung hinauf; er ist ein dunkler Strich, an dem Pflanzenreste kleben, die die Strömung darumgewickelt hat.
    Er ist trotzdem nicht sehr auffällig sichtbar. Shears hat ihn entdeckt, weil er ihn suchte. Er kann unbemerkt bleiben, wenn kein Japaner dort vorbeikommt… Doch die Uferböschung, die vorher nicht zu erklimmen war!… Jetzt ist sie ein fortlaufender Strand unterhalb des Steilhanges und zieht sich weiter fort … bis zur Brücke wahrscheinlich, – von hier aus kann man die Brücke nicht sehen – und scheint, wie Shears mit wütendem Blick feststellt, geradezu zum Promenieren aufzufordern. Die Japaner müssen indessen in Erwartung des Zuges mit Dingen beschäftigt sein, die sie davon abhalten, am Flußufer entlangzubummeln. Shears trocknet sich die Stirn ab.
    Niemals paßt sich die Aktion genau dem vorher entworfenen Plan an. Immer kommt in der letzten Minute ein banaler, trivialer, manchmal grotesker Zwischenfall und wirft das aufs beste vorbereitete Programm über den Haufen. »Number One« macht sich schuldbewußt den Vorwurf, daß er das Absinken des Flusses nicht vorausgesehen hat . Und ausgerechnet in dieser Nacht hat das geschehen müssen; nicht eine Nacht später noch zwei Nächte zuvor!
    Dieser bloßgelegte Strand ohne jegliches Grün, nackt, nackt wie die Wahrheit, reißt einem die Augen aus dem Kopf. Der Kwai-Fluß muß beträchtlich gesunken sein.
    Einen Fuß tief? Zwei Fuß tief? Vielleicht noch mehr? .
    Großer Gott!
    Shears spürt einen plötzlichen Schwächeanfall. Er klammert sich an einen Baum, um vor den Thailändern das Zittern seiner Glieder zu verbergen. Dies ist das zweite Mal in seinem Leben, daß er derartig außer Fassung gerät.

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