Die Brücke am Kwai
Beim ersten Mal geschah es, als er das Blut eines Gegners über seine Finger rinnen spürte. Sein Herz bleibt tatsächlich stehen, hört wahrhaftig auf zu schlagen, und sein ganzer Körper scheidet einen kalten Schweiß aus.
Um zwei Fuß? Vielleicht noch mehr?… Du großer Gott! Und die Ladungen? Die Sprengladungen an den Brückenpfeilern!
5
Joyce war, nachdem ihm Shears schweigend die Hand gedrückt und ihn allein auf seinem Posten gelassen hatte, lange Zeit wie betäubt gewesen. Die Gewißheit, daß er nur noch auf seine eigenen Kräfte rechnen konnte, war ihm wie Schwaden von Alkohol ins Gehirn gestiegen. Sein Körper war für die Ermüdung der vergangenen Nacht und die eisige Kälte seiner klatschnassen Kleider unempfindlich geblieben. Noch nie zuvor hatte er dieses Gefühl von Stärke und überlegener Machtvollkommenheit empfunden, wie sie die völlige Abgeschiedenheit auf einem Berggipfel oder in tiefer Finsternis verleiht.
Als er wieder zu vollem Bewußtsein kam, war er gezwungen, wieder vernünftig zu denken, um vor dem nahenden Morgengrauen zu einem Entschluß zu kommen, einige notwendige Handlungen vorzunehmen, um nicht auf Gedeih und Verderb einer ohnmächtigen Untätigkeit ausgeliefert zu sein. Wäre ihm dieser Gedanke nicht gekommen, dann wäre er so, ohne sich zu rühren, an einen Baum gelehnt, sitzen geblieben, die Hand auf dem Taster und die Augen auf die Brücke gerichtet, deren schwarzes Gerüst sich gegen ein Stück sternenbesäten Himmels über der undurchsichtigen Masse des niedrigen Buschwerks durch das spärlich belaubte Blattwerk der großen Bäume abhob. Es war die Stellung, die er rein instinktmäßig nach dem Fortgehen von Shears eingenommen hatte.
Er erhob sich, zog seine Kleider aus, wrang sie aus und rieb seinen erstarrten Körper ab. Dann zog er seine Shorts und sein Hemd wieder an, die ihn, obwohl sie feucht waren, gegen die kalte Morgenluft schützten, aß, soviel er konnte, von dem Reis, den Shears ihm dagelassen hatte, und trank einen ordentlichen Schluck Whisky. Er war der Meinung, daß es zu spät sei, sein Versteck zu verlassen und Wasser zu holen. Mit einem Teil des Alkohols wusch er die Wunden ab, die seine Glieder bedeckten. Er setzte sich am Fuß des Baumes hin und wartete. Im Verlauf dieses Tages würde sich nichts ereignen. Er sah es voraus. Der Zug konnte nicht vor morgen eintreffen; doch ihm, der an Ort und Stelle saß, schien es, als könne er die Ereignisse lenken.
Zu wiederholten Malen sah er Japaner auf der Brücke. Sie schienen kein Mißtrauen zu haben, und keiner von ihnen warf einen Blick zu ihm hinüber. Wie in seinen Träumen hatte er sich auf der Brücke einen einfach zu merkenden Punkt ausgesucht, einen Querbalken des Geländers, den er in einer Linie mit einem verdorrten Zweig sah. Dieser Punkt bezeichnete die Mitte der gesamten Länge; dort begann die verminte Strecke. Sobald die Lokomotive dort ankommen würde, mußte er mit seinem ganzen Gewicht den Tasthebel niederdrücken. Er hatte diesen einfachen Handgriff mehr als zwanzigmal geübt (nachdem er vorher den Draht abmontiert hatte), um ihn instinktiv durchführen zu können. Das Gerät funktionierte gut. Er hatte es sorgfältig gereinigt und abgetrocknet und darauf geachtet, daß kein Schmutz mehr darankam. Auch er selbst funktionierte ausgezeichnet.
Der Tag verging rasend schnell. Als die Nacht kam, stieg er den Steilhang hinunter, trank in vollen Zügen schlammiges Wasser, füllte seine Kürbisflasche und kehrte dann in sein Versteck zurück. Er erlaubte sich einen leichten Schlummer, ohne seine Sitzstellung – gegen den Baum gelehnt – aufzugeben. Sollte der Zug, gegen alle Erwartungen, früher eintreffen, so würde er ihn kommen hören, das wußte er genau. Wenn man sich lange im Dschungel aufhält, so gewöhnt man sich sehr schnell daran, im Unterbewußtsein so wachsam zu sein wie die wilden Tiere.
Er schlief immer wieder für kurze Zeit ein und lag zwischendurch lange wach. Dabei wechselten Bruchstücke des gegenwärtigen Abenteuers in seltsamer Weise mit den Erinnerungen an jene Vergangenheit ab, die er gemeinsam mit Shears wiedererweckt hatte, ehe sie sich den Fluß hinuntertreiben ließen.
Wieder war er in dem Büro voll verstaubter Zeichnungen, in dem er einige der wichtigsten Jahre seines Lebens verbracht und sich in endlos langen, melancholischen Stunden über das angestrahlte Zeichenblatt gebeugt hatte. Das Pfeilerchen, dieses Stück Metall, das er niemals in Wirklichkeit gesehen
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