Die Brücke am Kwai
wollte. Er mußte sie im Gegenteil um jeden Preis aus seinen Gedanken verscheuchen und ein erregendes oder betäubendes Ablenkungsmittel finden, das ihn in eine andere Sphäre entführte. Er brauchte eine andere Hilfe als das eisige Gefühl dieser fürchterlichen Pflicht.
Eine Hilfe von außen…? Er blickte hilfesuchend um sich.
Er war allein, nackt, auf fremder Erde, kauerte wie ein Tier des Dschungels hinter einem Gebüsch und war von allen Arten von Feinden umgeben. Seine einzige Waffe war dieser gräßliche Dolch, der in seiner Handfläche brannte. Vergeblich suchte er eine Stütze in irgendeinem Teil der Landschaft, die seine Phantasie früher entzündet hatte. Jetzt war alles im Tal des Kwai-Flusses sein Feind geworden. Der Schatten der Brücke entfernte sich von Minute zu Minute immer mehr. Das Bauwerk war nur noch ein seelenloses und wertloses Gerüst. Er konnte auf keine Hilfe hoffen. Er hatte keinen Alkohol und keinen Reis mehr. Es wäre für ihn eine Linderung gewesen, hätte er irgendwelche Nahrung herunterschlingen können.
Die Hilfe konnte nicht von außen kommen. Er war durchaus seinen eigenen Fähigkeiten überlassen. Er hatte es so gewollt. Er hatte sich darüber gefreut. Er hatte darüber Stolz und einen Freudenrausch empfunden. Sie waren ihm unbesiegbar erschienen. Sie konnten sich nicht mit einem Schlage in nichts auflösen und ihn hilflos zurücklassen wie eine Maschine, deren Motor ausgesetzt hat. Er schloß seine Augen vor der Welt, die ihn umgab, und lenkte seinen Blick nach innen auf sich selbst. Wenn es noch eine Möglichkeit zur Rettung gab, so befand sie sich dort und nicht auf der Erde oder im Himmel. In dem Elend seiner augenblicklichen Lage war der einzige Hoffnungsschimmer, den er sich noch vorstellen konnte, das hypnotische Funkeln innerer Vorstellungen, wie sie der Rausch von Gedanken hervorruft… Die Phantasie war seine Zuflucht. Gerade dies hatte Shears beunruhigt. Warden, der verständiger war, hatte es offengelassen, ob sie ein Vorzug oder ein Nachteil sei.
Es galt, den Zauber des quälenden Gedankens durch das Gegengift des freiwilligen angestrengten Nachdenkens zu bekämpfen. Es galt, den Film abrollen zu lassen, auf dem die sinnvollen Symbole seines geistigen Kapitals verzeichnet waren, es galt, mit inquisitorischer Heftigkeit alle Spektren der eigenen geistigen Welt zu durchforschen, es galt leidenschaftlich diese geistigen Zeugen seines Daseins zu untersuchen, bis er ein Sinnbild gefunden hatte, das ihn so in Anspruch nahm, daß es, ohne eine Lücke zu lassen, den ganzen Bereich seines Bewußtseins ausfüllte. Fieberhaft ließ er sie an sich vorbeiziehen. Da war der Haß gegen die Japaner und das Pflichtgefühl, sie waren kraftlose Reizmittel, die kein klares Bild ergaben. Er dachte an seine Vorgesetzten, an seine Freunde, die ihr ganzes Vertrauen in ihn gesetzt hatten und ihn auf dem anderen Ufer erwarteten. Auch das war keine ausreichende Wirklichkeit. Es reichte gerade, um ihn zum Aufopfern seines eigenen Lebens zu drängen. Selbst der Rausch des Erfolgs verlieh jetzt keine Kraft. Oder aber er mußte sich dann den Sieg in einer spürbareren Form vorstellen, als es diese Aureole war, deren verblichene Ausstrahlung keine Gegenständlichkeit mehr aufwies, an die er sich klammern konnte.
Plötzlich schoß ihm eine Vorstellung durch den Kopf. Sie hatte in Blitzesschnelle klar aufgeleuchtet; ehe er sie noch richtig erkannt hatte, spürte er intuitiv, daß sie bedeutungsvoll genug war, um eine Hoffnung zu verkörpern. Er kämpfte darum, sie wiederzufinden. Von neuem leuchtete sie auf. Das war die Halluzination der vergangenen Nacht, das Zeichenblatt unter dem Scheinwerfer, die zahllosen Darstellungen des Pfeilerchens, gegen die sich die braunen Rechtecke allmählich abzeichneten und die in Rundschrift eine Überschrift beherrschte, die unaufhörlich in fetten, leuchtenden Buchstaben das Wort ZERSTÖRUNG bildeten.
Sie erlosch nicht mehr. Von diesem Augenblick an, und von seinem Instinkt herbeigerufen, ergriff sie siegreich Besitz von seinem Verstand, er spürte, daß sie allein beständig genug, vollständig genug und stark genug war, um ihn allen Widerwillen und alle Zaghaftigkeit seines elenden Knochengerüstes überwinden zu lassen. Sie war berauschend wie Alkohol und beruhigend wie Opium. Er ließ sich von ihr erfassen und achtete darauf, daß sie ihm nicht mehr entschwand.
Als er dieses Stadium der Selbsthypnose erreicht hatte, nahm er ohne Überraschung japanische
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