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Die Brücke am Kwai

Die Brücke am Kwai

Titel: Die Brücke am Kwai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Boulle
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einen Gegner, der auf einen losstürzt, bestand die Vorschrift, daß man ihn mit leicht aufwärts gerichteter Spitze, die Schneide nach oben, vor sich hielt und immer von unten nach oben zustieß, so wie man einem Tier den Bauch aufschlitzt. Diese Tat an sich ging nicht über seine Kräfte. Er hätte sie fast instinktiv ausführen können. Aber hier lag der Fall anders. Kein Feind würde sich hier auf ihn werfen. Er würde sich nicht verteidigen müssen. Er würde bei dem Ereignis, das er näherkommen fühlte, das zweite Verfahren anwenden müssen. Es verlangte nur geringe Kraft, aber dafür Geschicklichkeit und entsetzliche Kaltblütigkeit. Dies war das Verfahren, das man den Anfängern empfahl, wenn es darum ging, nachts einen Wachposten so zu beseitigen, daß diesem weder Zeit noch Möglichkeit blieb, Alarm zu schlagen. Man mußte ihn von hinten erstechen, und keineswegs in den Rücken – auch das wäre zu leicht gewesen – man mußte ihm die Kehle durchschneiden.
    Der Dolch mußte umgekehrt in der Hand gehalten werden, wobei die Fingernägel unten und der Daumen, um eine größere Genauigkeit zu erzielen, an der Stelle auf der Klinge lag, wo sie aus dem Griff wächst. Die Klinge mußte dabei horizontal und im rechten Winkel zum Körper des Opfers gehalten werden. Der Stoß mußte von rechts nach links, sicher, doch ohne übergroße Heftigkeit, die ihn hätte ablenken können, geführt werden und mußte sich auf einen gewissen Punkt wenige Zentimeter unterhalb des Ohres richten. Auf diesen Punkt mußte man zielen und ihn und keinen anderen treffen, damit der Mann nicht schreien konnte. Darin bestand das Schema der Angriffshandlung. Sie hatte als Begleiterscheinung auch noch andere, zusätzliche, wichtige Handgriffe zur Folge, die in dem unmittelbar auf den Stich folgenden Augenblick durchgeführt werden mußten. Doch die zu diesem Thema von den Ausbildern in Kalkutta mit einem Schuß von Humor gegebenen Ratschläge wagte sich Joyce nicht einmal mit leiser Stimme zu wiederholen.
    Es gelang ihm nicht, die Vision der unmittelbaren Folgen zu verscheuchen. Er hielt sich also im Gegenteil dazu an, ihr Bild zu betrachten, es erstehen zu lassen, und es in seinen Umrissen und seiner scheußlichen Farbe in allen Einzelheiten genau auszumalen. Er zwang sich dazu, seine gräßlichsten Aspekte zu analysieren, und hoffte dabei, ihrer überdrüssig zu werden und zu der Gleichgültigkeit zu gelangen, die die Gewohnheit verleiht. Er durchlebte den Vorgang zehnmal, zwanzigmal, und nach und nach gelang es ihm, nicht mehr ein Hirngespinst, nicht mehr eine unbestimmte innere Vorstellung zu entwerfen, sondern vor sich auf dem Strand einen Menschen zu erblicken, einen japanischen Soldaten in Uniform in seiner ganzen Wirklichkeit und Leibhaftigkeit, mit seiner seltsamen Mütze und dem Ohr, das darunter hervorragte, und etwas tiefer den kleinen Fleck brauner Haut, auf den er mit seinem geräuschlos erhobenen, halb vorgestreckten Arm zielte. Er zwang sich, den vorhandenen Widerstand zu spüren und zu ermessen, das Herausschießen des Blutes und das Zusammenzucken mit anzusehen, während der Dolch mitten in seiner verkrampften Faust hartnäckig die zusätzlichen Bewegungen vollführte, und sein linker, jählings niederfahrender Arm den Hals des Opfers zusammendrückte. Eine unendliche Zeit lang wälzte er sich geradezu in dem tiefsten Grauen, dessen sein Denkvermögen fähig war. Er machte derartige Anstrengungen, um seinen Körper darin zu üben, nichts anderes als eine gehorsame und unempfindliche Maschine zu sein, daß er dadurch eine entmutigende Ermattung in allen seinen Muskeln verspürte.
     
    Er war seiner selbst immer noch nicht sicher. Er wurde mit Schrecken gewahr, daß sein Verfahren, sich auf diese Dinge vorzubereiten, unwirksam blieb. Die Vorstellung eines Fehlschlages marterte ihn ebenso unerbittlich wie das Denken an seine Pflicht. Er hatte zwischen zwei grausamen Möglichkeiten zu wählen; da war die schmähliche Möglichkeit, von der in einer Ewigkeit voller Scham und Gewissensbisse die gleiche Menge an Grauen ausströmte, wie sie die zweite in den wenigen Sekunden der abscheulichen Tat enthalten würde, nur daß die erste passiver Natur war, eine untüchtige Feigheit erforderte und ihn qualvollerweise durch den perversen Zauber der Bequemlichkeit verlockte. Endlich begriff er, daß er sich vergebens bemühte, kaltblütig im vollen Besitz seines Bewußtseins die Tat zu vollbringen, die er sich eigensinnig vorstellen

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