Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
sie die Armbänder sah.
Hygor hatte die Hand ausgestreckt und ihre Hochzeitskette zerrissen, die Tonperlen waren auf den felsigen Boden gefallen und zersprungen.
»Frau, du bist jetzt nicht mehr meine Frau«, hatte er mit im Mondlicht schimmernden Augen gesagt. »Du gehörst nun diesem Mann.«
Sie war auf die Knie gefallen und hatte ihn angefleht – so wurde es von ihr erwartet. Doch ihr Geist wandte sich bereits der Zukunft zu.
»Mein Name ist Gurvon Gyle«, hatte der Vrajitoare gesagt und ihre Klagerufe mit einer Handbewegung zum Verstummen gebracht. »Du gehörst jetzt mir. Komm.«
Manchmal vermisste sie Hygor und die Einfachheit des Stammeslebens, aber nach der Geburt ihrer Tochter war sie unfruchtbar geworden. Die Kleine würde eine Sfera werden, doch mehr hatte Vedya Hygors Stamm nicht zu geben. Sie war weit weniger wert gewesen als dreitausendsechshundert Pferde. Hygor hatte einen guten Preis für sie bekommen.
Anfangs war sie verwirrt gewesen. Dieser Gyle schien nicht zu beabsichtigen, die Ehe mit ihr zu vollziehen, stattdessen verbrachte er seine Nächte mit einer abgekämpften ältlichen Frau, mit der er nicht einmal verheiratet war. Doch nach und nach begriff Vedya: Ihre Rolle war die als Gyles Dienerin. Die andere Frau, diese feindselige zynische Kreatur namens Elena Anborn, war seine Geliebte. Gyle hatte Vedya nicht gekauft, um sein Bett mit ihr zu teilen, sondern um sie auszubilden. Ihr Potenzial zur Entfaltung zu bringen, wie er es nannte, damit sie für ihn arbeiten konnte. Also lernte sie alles über Schilde, wie man einen Feind mit Gnosisenergie vernichtet und andere Techniken, von denen die Sfera nicht einmal etwas ahnten. Wundervolle Dinge: Fliegen, Gedankenlesen, Menschen täuschen. Sie eröffneten ihr ganz neue Horizonte, der gerissene Gyle und seine kalte Elena.
Irgendwann kam sie auf den Gedanken, Elena aus Gyles Bett zu verdrängen. Vedyas Ansehen bei den anderen Vrajitoare, die für ihn arbeiteten, würde beträchtlich steigen. Vedya war aufgefallen, dass die Beziehung der beiden hauptsächlich auf Gewohnheit beruhte, auf alten Erinnerungen, längst vergangener Leidenschaft. Wenn sie es miteinander trieben, dann mechanisch und uninspiriert. Viel zu kurz, dann drehte sich jeder auf seine Seite. Wenn sie miteinander sprachen, ging es stets um Gedanken und Pläne, nie um Träume. Es war leicht, einen Keil zwischen die beiden zu treiben. Vedya war jung, schön und exotisch, sie fühlte sich wohl in ihrem Körper und mit ihren sexuellen Begierden. Mehrmals hatte sie es mit Hygor vor dem ganzen Stamm getan und auch anderen dabei zugesehen. Ständig hatte sie dazugelernt, wie sie einem Mann Vergnügen bereiten konnte – und sich selbst. Es war nicht schwer, Gyle ein paar Hinweise zu geben, ihn hier und da etwas nackte Haut sehen zu lassen. Vedya war geduldig, denn es gab noch so viel zu lernen, jetzt, nachdem sie verstanden hatte, was die Aufgabe von Gyles Truppe war: Menschen für Geld zu töten. Und auch das erlernte Vedya mit Freude und Leichtigkeit.
Es war kein Problem gewesen, dafür zu sorgen, dass sie Zeit mit Gurvon allein verbringen konnte. Beim ersten Mal in Verelon war er nur hektisch über sie hergefallen. Schnell und schuldbewusst hatte er sie genommen. Beim nächsten Mal bremste sie ihn und zeigte Gyle, wie er besser auf seine Kosten kam. Vedya maßte sich nicht an, besonders klug zu sein, aber sie war eine gute Zuhörerin. Sie fand schnell heraus, wie sehr Gyle es mochte, wenn sie ihm das Gefühl gab, er sei ein Weiser, dem man besser nicht widerspricht, wie Elena es ständig tat. Und wie alle Männer hielt er sich gerne für einen meisterlichen Liebhaber. Vedya wusste genau, wie sie ihn kriegen konnte. Sie befriedigte seine Eitelkeit und versklavte seinen Körper, und er gehörte ihr.
Als Elena Anborn allmählich dämmerte, dass ihr gerade der Liebhaber gestohlen wurde, genoss Vedya es in vollen Zügen. Stur tat Elena so, als sei nichts. Gleichzeitig putzte sie sich heraus und erniedrigte sich damit nur selbst, während Gyle immer neue Ausreden fand, sich von ihr fernzuhalten. Amüsant. Gyle tat so, als sei Elena ihm immer noch wichtig, aber das waren nur leere Worte. Gurvon gehörte jetzt ihr.
Vedya jagte über den Dächern der heruntergekommenen Hütten am Rand der Stadtmauer dahin und spähte mit ihren Eulenaugen in die Nacht. Elena Anborn kam aus der Deckung gehumpelt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen, die Bewegungen seltsam ungeschickt. Ist sie verwundet?
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