Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
»Haben wir einen Plan, Elena?«, wiederholte er.
Ich hatte einen, aber in diesem Plan war ich unverletzt. »Wir müssen sie zu uns herunterlocken und mit nichtmagischen Waffen besiegen. Sie ist keine Kämpferin.«
»Aber sie braucht nur da oben zu bleiben und zu warten, bis die Soldaten der Gorgio hier sind!«
»Ich habe nicht gesagt, es wäre ein guter Plan.«
Solinde stöhnte neben ihnen.
Ich tue das für dich, Princessa. Mit letzter Kraft stand Elena auf und wankte auf die kleine Gasse hinaus.
Eine gleißende Silhouette kam auf sie herabgestoßen wie ein Engel Kores.
Vedya Smlarsk war Gurvon Gyle am Nordpunkt begegnet, dem Zugang zur Leviathanbrücke. Sie war mit ihrem Mann Hygor gekommen, um den Ureche Turla zu bestaunen – den Augenturm, wie die Sydier ihn nannten. Jenen Turm, von dem aus die verhassten Magi bei Tag und bei Nacht über die Brücke nach Süden schauten. Die Brücke selbst lag tief unter den Wellen verborgen, bis zur nächsten Mondflut war es noch lange hin. Der Ureche Turla war ein beeindruckender Anblick: eine Meile hoch und von oben bis unten verziert wie ein kunstvoll geschnitzter Stoßzahn. Überall ragten rechteckige Plattformen hervor mit dicken Seilen daran: Landestellen für die Windschiffe. Das bläuliche Licht direkt unter der Spitze des Turms schimmerte wie ein Stern.
Neunzehn Jahre zuvor hatte Vedyas Mutter einen Brückenbauermagus verführt. Sie war bereits verheiratet, doch es lag nichts Schändliches in ihrem Verhalten, denn das Kind eines Magus zur Welt zu bringen bedeutete Wohlstand und Ansehen für die Sippe. Ihre Mutter war schön gewesen und bewandert in den Freuden des Fleisches. Oft wurde sie berufen, um an Festtagen mit den Priestern die heilige Vereinigung zu vollziehen. Vor den Augen des versammelten Dorfes vollzogen sie den Beischlaf, um die Ernte zu segnen. Ihre Sippe war ein Nomadenstamm, der Pferde züchtete, doch jeden Frühling wurden sie vorübergehend sesshaft, um eine Ernte Gerste, Hafer und Weizen für den nächsten Winter einzubringen.
Vedya wuchs heran, von allen gemocht und hofiert. Die Männer kämpften um sie. Die wenigen Magi, die der Stamm hervorgebracht hatte, lebten in einer Gemeinschaft, der sogenannten Sfera. Die Konkurrenz, aber auch der Zusammenhalt unter ihnen waren groß, und sie brachten einander das wenige bei, das sie von der Gnosis erlernt hatten. Alle Sfera waren zwangsläufig Halbrondelmarer, die meisten unter ihnen Viertel- oder Achtelblute, nur Vedya war ein echtes Halbblut. Sie hatte eine starke Affinität zu Wasser und Tieren. Sobald sie ihre erste Periode hatte, wurde sie einem mächtigen Mann zur vierten Frau gegeben: Hygor von den Armasar Rasa. Als Höhepunkt der Hochzeitsfeierlichkeiten nahm er vor den Augen der versammelten Sippe ihre Jungfräulichkeit, während seine anderen drei Frauen aus dunklen, undurchdringlichen Augen zusahen. Er war doppelt so alt wie sie. Vedya war damals dreizehn.
In jener Nacht in Pontus sah sie noch einen anderen Mann, der den Ureche Turla betrachtete. Hygor, dem stets wachsamen Jäger, war er bereits aufgefallen. Zunächst hatte sie den Unbekannten in dem sydianischen Lederumhang für ein anderes Stammesmitglied gehalten, doch als er näher kam, blies der Wind seine Kapuze zurück, und im Mondlicht war deutlich zu erkennen, dass er aus Rondelmar stammen musste. Er besichtigte auch nicht den Turm: Er beobachtete Vedya.
Hygor knurrte. Wenn ein Fremder die Frau eines Sydiers so unverhohlen anstarrte, war das eine nicht hinnehmbare Herausforderung seiner Männlichkeit.
Der Fremde sah zwar nicht aus wie ein besonders guter Kämpfer, zuckte aber mit keiner Wimper, als Hygor wütend auf ihn zustampfte. Er war klein für einen Rondelmarer, hatte ein verschlagenes Gesicht und einen kompakten Körperbau.
Hygor hatte zweifellos vor, ihn zu töten – bis er den pulsierenden Kristall um seinen Hals entdeckte. Der Mann war ein Vrajitoare, ein Magus.
Vedya hatte Angst um Hygor gehabt. Er war ein guter Gatte, mannhaft und beschützerisch, und er zog Vedya seinen anderen Frauen stets vor. Dann hatte der Vrajitoare die Hand gehoben, um seine friedlichen Absichten zu bekunden, und die beiden hatten sich unterhalten. Der Vrajitoare beherrschte ihre Sprache, und als Hygor zurückkam, sah er höchst erstaunt aus. In den Händen hielt er drei Armbänder. Jedes davon war mit zwölf Diamanten besetzt, von denen jeder einzelne hundert Pferde wert war. Vedya erinnerte sich, wie sie zu zittern begonnen hatte, als
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