Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Vedya leckte sich über die Lippen. Es war an der Zeit, dass die Untergebene sich zur Herrin aufschwang, die einstige Schülerin zur Meisterin. Der klein gewachsene Armbrustschütze lag zuckend am Boden, und sie schoss noch einen Blitz auf ihn ab, nur um sich an seinem Todeskampf zu weiden. Immer noch kein Gegenangriff von Elena. Vedya war überrascht.
Kann sie etwa nicht mehr? Innerlich jubilierte Vedya bereits, zwang sich aber, sich zunächst auf Elenas anderen Begleiter zu konzentrieren. Außerdem waren da noch die Jhafi, wie Käfer in einem verfaulenden Baumstamm liefen sie zu Hunderten umher. Vedya kannte viele Arten zu töten, aber diesmal würde es ganz besonders schön werden.
Mit einem schrillen Aufschrei erschütterte sie alle Seelen in der Umgebung mit dem Gefühl tiefster Verzweiflung. Sie spürte, wie alte Männer und Frauen sich plötzlich ihren eigenen Tod vorstellten und ihr Herz augenblicklich aufhörte zu schlagen. Kinder träumten, ihre Mütter seien gestorben, und schrien. Junge Männer glaubten plötzlich, sie seien kastriert worden. Brüllend vor Schmerz, die Hände auf den vermeintlich nicht mehr vorhandenen Hodensack gepresst, wälzten sie sich am Boden. Frauen fassten sich an den Bauch, weil sie zu spüren glaubten, wie auf einmal ihre Gebärmutter verkümmerte. Und die ganze Zeit über wartete Vedya auf Elenas Gegenangriff, aber nichts geschah.
Sie kann tatsächlich nicht mehr! Vedya konzentrierte sich auf den Rimonier an Elenas Seite, schlüpfte in seinen Geist und kannte ihn im Nu in- und auswendig: Ein junger Mann, verliebt in Elena Anborn. Was hat es nur auf sich mit diesem verschrumpelten alten Weib? Der Rimonier hatte sein erstes sexuelles Erlebnis mit einer älteren Frau gehabt, und seine Wahrnehmung von Elena hatte sich mit der Erinnerung an seine mittlerweile verstorbene erste Liebhaberin vermischt. Dann hatte er die ruchlose Mörderin hinter Elenas zarter Maske entdeckt – erst vor wenigen Stunden. Vedya spürte sein Entsetzen darüber, wie Sordell Elenas Körper zugerichtet hatte, sah durch seine Augen, wie verunstaltet sie jetzt war. Wie ein zerschlagenes Ei, die Schale zerbrochen, das Innere ausgelaufen, klebrig und schutzlos. Seine Verwirrung war beinahe greifbar, so stark war sie. Eine bereitwillige Waffe. Vedya jauchzte.
Sie ist ein Monster , flüsterte Vedya. Sie empfindet nicht das Geringste für dich. Wie sie jetzt aussieht, das ist ihr wahres Wesen! Die Maske, hinter der sie ihre Grausamkeit verborgen hat, wurde ihr vom Gesicht gerissen! Streck sie nieder, befreie die Welt von ihr …
Vedya jubilierte innerlich, als der Ritter ganz langsam aus der Deckung kam und sein Schwert hob. Dies war ihre Stunde. Sie schoss herab und wehrte mühelos den schwachen Blitz ab, den Elena ihr entgegenschleuderte. Elenas Kapuze verrutschte, und Vedya sah die runzlige Haut und das dürre ergraute Haar darunter.
Vornübergebeugt wie eine Greisin, kauerte Elena am Boden, die Hände vom Alter verkrümmt. Der Ritter war schon fast bei ihr. Sein Schwert war zersplittert, aber immer noch lang genug, um sie zu töten.
»Elena, endlich siehst du so alt aus, wie du bist«, sagte Vedya laut, um sie abzulenken.
Elena richtete sich auf, das frühzeitig gealterte Gesicht verzerrt vor Anstrengung. Der Rimonier wollte gerade zuschlagen, da fuhr Elena herum, und der Recke fiel in sich zusammen wie ein Sack Kartoffeln.
Vedya fuhr erschrocken zusammen, doch dann sah sie, wie Elenas Beine wegknickten und sie keuchend auf die Knie sank. Das Amulett um ihren Hals glomm nur noch schwach. Sie sah aus wie eine zahnlose Hyäne, die in den Müllhaufen am Rand der Stadt nach Fleischresten sucht.
Ha! Vedya landete direkt vor Elena und schlug ihr mit der flachen Hand mitten ins Gesicht. Keine Schilde schwächten die Ohrfeige ab – ein herrliches Gefühl.
Elena griff nach ihrem Schwert, aber Vedya trat ihr aufs Handgelenk.
Knochen splitterten, Elena wimmerte vor Schmerz, und Vedya schickte noch einen Gnosisblitz hinterher. Von Krämpfen geschüttelt, öffnete Elena den Mund zu einem stummen Schrei, während das blaue Feuer knisternd ihre Haut versengte.
Den nächsten würde sie nicht überleben.
Aber nein, nicht so hastig. Vedya kniete sich neben die Frau, die ihr mehr über die Gnosis beigebracht hatte als jeder andere. In der Kunst der Magi war sie ihre Mentorin gewesen, in der Liebe ihre Rivalin, und jetzt lag sie vollkommen hilflos vor ihr ausgestreckt. »Elena, Liebes, erinnerst du dich noch, wie du
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