Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
würde, sich zu rasieren. Er stellte sich ihr Gesicht vor und wo sie jetzt wohl sein mochte. Dachte sie immer noch an ihn, so wie er es gerade tat? Oder war sie schon schwanger und mit ganz anderen Dingen beschäftigt?
Er schüttelte die düsteren Gedanken ab und befühlte die Zeltklappe. Von außen war sie bis auf halbe Höhe mit Sand bedeckt. Kurz entschlossen öffnete er die obere Hälfte und kroch über den kleinen aufgeschütteten Hügel ins Freie. Seine Beine schmerzten, weil er sie so lange nicht bewegt hatte. Sie zu strecken tat sogar noch mehr weh. Das Licht blendete seine Augen, aber um ihn herum war alles ruhig. Überall war Sand. Auf der gegenüberliegenden Seite türmte er sich beinahe bis hinauf zur Böschung des Wadi, aber hier auf der Leeseite waren sie einigermaßen verschont geblieben.
Jamil sattelte gerade eins der Pferde und lächelte ihn an. »Sal’Ahm!«, rief er Kazim zu.
Kazim sah sich um. Die Sonne stand linker Hand niedrig über dem Horizont. Im Osten also, falls es Morgen war. »Ist alles gut gegangen?«
»Alles ist gut gegangen. Weck die anderen. Wir müssen etwas essen.« Jamil deutete auf ein kleines Feuer mit einem dampfenden Topf darauf. Kazims Magen begann sofort zu knurren.
Von dem Gedanken an Essen beflügelt, weckte er Haroun. Dann lief er hinüber zu Jais immer noch sorgfältig verschlossenem Zelt und spähte durch das Luftloch: Jais Augen waren geschlossen, Keitas Kopf lag auf seiner Brust, das Haar fiel ihr über die nackte Schulter. Auch sie schlief noch. Kazim schnupperte. Er roch Schweiß und andere Körperflüssigkeiten. Dieser verdammte Glückspilz . »Jai, wach auf!«
Sein Freund schlug die Augen auf. »Ich bin wach«, flüsterte er mit einem entrückten Lächeln.
»Dann komm gefälligst raus und hilf bei der Arbeit. Außer du bist noch so schwach von der letzten Nacht, dass du dich nicht bewegen kannst?«
»Fünf Minuten«, erwiderte Jai und zauste zärtlich Keitas Haare, woraufhin das Mädchen sich kaum merklich bewegte und etwas Unverständliches murmelte. »Vielleicht auch zehn.«
Sie ritten weiter nach Norden, der Mond nahm ab und verschwand schließlich ganz vom Himmel. Wochen vergingen, jeder Tag war wie der andere. Die Vorräte wurden langsam knapp, aber Jamil achtete darauf, dass die Rationen strikt eingehalten wurden und ihnen das Essen nicht ausging. Der Hauptmann kundschaftete den Weg vor ihnen jetzt nicht mehr aus. Es war nicht mehr nötig, wie er sagte. Der Boden war felsig, der Sand gröber, vereinzelt wuchsen drahtige Büsche. Dicke bläulich schwarze Fliegen summten ständig um ihre Köpfe, nur von Jamil hielten sie sich fern. Und das war nicht das einzige Ungewöhnliche, das Kazim auffiel. Manchmal sah er nachts im Zelt des Hauptmanns ein blasses blaues Leuchten, und er schien oft lange mit sich selbst zu reden. Aber er hatte sein Versprechen gehalten und sie sicher durch die Wüste gebracht. Außerdem behandelte er sie alle jetzt mit weit mehr Respekt. Wenn er Kazim »Hühnerdieb« nannte, dann nur noch zum Spaß.
Kazim fühlte eine Verbundenheit mit ihnen allen, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Sie hatten das Massaker überlebt und den Sandsturm, und jetzt hatten sie gemeinsam die Wüste durchquert. Sie beteten zusammen und aßen zusammen, und niemand nahm Anstoß an Jais Bettgemeinschaft mit Keita. Das Mädchen kochte inzwischen für sie und verlor sogar etwas von seinem Babyspeck. Allmählich wurde Keita zur Frau, und wenn Jai nicht aufpasste, würde ihr Bauch bald kugelrund werden. Kazim sprach ihn darauf an, als sie die Pferde zu einer kleinen natürlichen Tränke brachten, die Jamil entdeckt hatte.
»Sie blutet immer bei Dunkelmond«, erwiderte Jai, »darum waren wir letzte Woche vorsichtig. Bald werden wir das Blutzelt wieder brauchen. Jamil sagt, dass Gujati, das südlichste Dorf in Kesh, nur noch wenige Tage entfernt ist.« Er blickte über die Schulter. »Irgendwie werd ich die Wüste vermissen.«
»Ich auch. Sie hat was Besonderes … Aber ich bin froh, wenn ich endlich mal wieder baden kann.« Er richtete seine Gedanken nach vorn, auf Hebusal und Ramita, die dort irgendwo gefangen saß – den Vogel, den er aus seinem goldenen Käfig befreien würde. Geliebte, wir kommen .
Zwei Tage später erklommen sie in den länger werdenden Schatten der untergehenden Sonne eine Düne und blickten hinab auf eine Ansammlung von etwa dreißig Lehmhütten mit einem Brunnen in der Mitte. Sie waren zu erschöpft, um den Moment gebührend
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