Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
ihm ins Zelt.
Jai winkte noch einmal, dann zog er die Zeltklappe zu und verknotete die Schlaufen.
Jamil kam zu ihnen gewankt und drückte Kazim eine Schaufel in die Hand. »Bleibt im Zelt, dann wird euch nichts passieren, so Ahm will«, schrie er, dann war er weg.
Kazim verschloss die Klappe, und das Zelt erbebte unter dem Ansturm des heulenden Windes. Sie konnten sich kaum bewegen, so eng war es.
Haroun hielt ihm lachend eine kleine Flasche unter die Nase. Er nahm einen Schluck, dann gab er sie Kazim. Sie roch süßlich, nach Arrak. »Allzu schlimm kann es hier drin nicht werden, Bruder«, schrie er gegen das Heulen an und lehnte sich gegen einen Felsen des Wadi. »Eines Tages wird Ahm meine Seele so weit geläutert haben, dass ich diese irdischen Vergnügungen nicht mehr brauche. Doch glücklicherweise liegt dieser Tag noch in ferner Zukunft.«
Kazim nahm einen Schluck. Brennend lief der bittere Schnaps seine Kehle hinunter. Jamil hatte gesagt, der Sturm könne mehrere Tage anhalten. Der Wind brüllte so laut, dass man sich kaum unterhalten konnte. Solange die Zelte standhielten, gab es also nicht viel anderes zu tun, als zu beten und zu schlafen. Und zu trinken, natürlich.
»Haroun, habe ich das Richtige getan, damals bei dem Überfall der Ingashiri?«, fragte er einige Zeit später, als der Lärm vorübergehend etwas nachgelassen hatte.
Haroun blinzelte ihn an. »Du hast uns allen das Leben gerettet, Kazim. Du warst unglaublich!«
»Es fühlt sich aber nicht so an. Ich habe einen Banditen unter die Wagenräder gezogen und ihn getötet. Aber ich habe auch einen der Unseren überfahren. Einen anderen habe ich vom Wagen gestoßen, damit er uns nicht aufhält. Macht insgesamt einen Feind und zwei Verbündete – drei Amteh, die ich wegen der Fehde getötet habe. Wenn man die Männer noch mitzählt, denen ich die Essensrationen gestohlen habe, vielleicht sogar noch mehr. Wird Ahm mir vergeben?«
»Du weißt selbst, dass das Unsinn ist, was du da redest, Bruder«, erwiderte Haroun. »Ahm liebt dich, Kazim Makani, so viel ist sicher. Und jetzt lass uns beten, es wird deine Seele erleichtern.«
Also beteten sie, und für eine Weile fand Kazim Frieden. Doch wie sonst auch konnte er sich nicht lange auf die hehren Dinge konzentrieren. Er war noch am Leben, andere nicht. Denk nicht darüber nach , sagte er sich. Schau nach vorn . Schließlich konzentrierte er seine Gedanken voll und ganz darauf, den Sturm zu überleben, und nach einer Weile wünschte er sich, er könnte mit Jai tauschen. Der Glückspilz hatte wenigstens eine warme weiche Frau, an die er sich kuscheln konnte. Obwohl mit Keita wahrscheinlich nicht viel anzufangen war. Vielleicht war Jai sogar in der schlimmeren Lage: auf engstem Raum zusammengepfercht mit einer frigiden Jungfrau in dem Wissen, dass Jamil ihn umbringt, falls er sie gegen ihren Willen anrührt – auch wenn Jai ein Mädchen niemals zu irgendetwas zwingen würde. Wahrscheinlich lag er da, einen Ständer in der Hose, und konnte sich nicht mal selbst befriedigen. Kazim grinste.
Das Brüllen des Windes wurde wieder lauter. Wie wild zerrte der Sturm an ihren Zelten, doch fürs Erste hielten sie stand. Wenn sie kacken oder pinkeln mussten, taten sie es in der windabgewandten Ecke des Zeltes und schütteten Sand darüber. Jamil hatte dort eine winzig kleine Öffnung gelassen, damit der Gestank nicht zu schlimm wurde. Eigentlich war es gerade Mittag, aber der schmutzig braune Himmel draußen sah aus, als würde es gleich dunkel werden. Sie nippten weiter an der Flasche Arrak, bis sie leer war, und irgendwann schliefen sie vor Langeweile und berauscht vom Alkohol ein.
Irgendwann, er konnte nicht sagen, wie viele Stunden oder Tage vergangen waren, wurde Kazim von einem dünnen Lichtstrahl geweckt, der durch das kleine Luftloch ins Zelt drang. Draußen ertönte der Schrei eines Habichts. Ein Pferd wieherte leise. Die Luft roch säuerlich, und Haroun murmelte im Schlaf vor sich hin. Kazim betrachtete ihn: Sein Bart war um einiges voller als bei ihrer ersten Begegnung, gekräuselt hing er bis zu den Schultern herab. Der weiße Stoff seines Kaftans war ausgefranst, unter den Achseln hatten sich bräunlich gelbe Flecken gebildet. Der Gedanke, dass sie sich erst seit wenigen Monaten kannten, war seltsam. Für Kazim fühlte es sich an, als wäre es bereits eine Ewigkeit.
Er rieb sich den eigenen wuchernden Bart. Unwillkürlich fragt er sich, ob er Ramita gefallen würde oder ob sie ihn drängen
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