Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
vierzehn Jahre alt, also könnte es noch eine Weile dauern, bis er zur Vernunft kommt.« Er beugte sich nach vorn. »In Wahrheit ist es Wesir Hanouk, der Lakh regiert, und der verschlagene Hundesohn wird wegen ein paar Amteh aus dem Süden, die in der Wüste verrecken, kaum schlaflose Nächte bekommen. Er ist Omali und will die Amteh sowieso loswerden.« Er breitete die Hände aus. »Wenn wir es also schaffen wollen, werden wir uns selbst um alles kümmern müssen, wie ihr seht.« Er blickte Haroun an. »Kopf hoch, junger Schriftgelehrter. Ahm hilft vor allem denen, die sich selbst helfen. Wenn ihr tut, was ich sage, schaffen wir es.«
Kazim starrte auf den Boden. Was er soeben gehört hatte, war so vollkommen anders als alles, was er sich vorgestellt hatte. Er hatte an eine Welt mit edlen Herrschern und ebenso edlen Absichten geglaubt, doch Jamils Worte passten allzu gut zu der Welt, die er unterwegs kennengelernt hatte: schäbig, verwahrlost und brutal, ohne jeden Glauben.
»Wer bist du, Jamil? Woher weißt du all diese Dinge?«
»Ich bin ein Amteh wie du, Hühnerdieb. Ich habe an vielen Orten gelebt und meinen Lebensunterhalt sowohl mit dem Schwert als auch mit meinem Verstand bestritten. Die Armee des Moguls war mir mehr als einmal ein angenehmer Dienstherr. Und meine jetzigen Meister meinen es gut mit dir.« Er blickte hinauf zu den Sternen. »Seht zu, dass ihr noch etwas Schlaf bekommt. Wir stehen noch vor Sonnenaufgang auf und reiten den ganzen Tag.«
»Wir reiten bei Tag?« Kazim war überrascht.
»In der Tat. Bei Tag ist es am sichersten, weil die Ingashiri dann rasten.«
Beim ersten Morgengrauen standen sie auf. Die Sonne tauchte den östlichen Himmel in ruhmreiches, unerreichbares Rot und Gold. Die Luft war trocken, aber rein, kein Lüftchen rührte sich, nirgendwo war auch nur eine einzige Wolke zu sehen. Sie hielten sich an niedrige Rinnen und Vertiefungen, dann und wann kundschaftete Jamil das Gelände aus, doch nirgendwo entdeckten sie auch nur eine Spur von den Banditen. Nicht einmal auf dem Schauplatz des Massakers, wo Hunderte von Schakalen und Geiern um die unter freiem Himmel verwesenden Leichen kämpften. Zur Mittagszeit stiegen sie ab und umwickelten die Hufe der Pferde mit Stoff. Den ganzen Tag bekamen sie keine Ingashiri zu Gesicht, auch nicht am nächsten Tag, und am Nachmittag des übernächsten Tages nahmen sie den Stoff wieder ab. Jamil gestattete ihnen sogar zu traben. Das stumme Mädchen hielt die Arme stets eng um Jais Brust geschlungen und presste sich an seinen Rücken. Ein leiser Aufschrei, als sie das erste Mal antrabten, war das einzige Geräusch, das sie von sich gab.
Kazim sah Zeichen von Leben, die ihm beim Marsch in der Kolonne entgangen waren: Spuren, die Schlangen im Sand hinterlassen hatten, hier und da ein hauchdünnes Spinnennetz zwischen zwei Steinen. Ein kleiner Vogelschwarm hatte sich ihnen angeschlossen und labte sich an den Fliegen. Fliegen gab es jede Menge.
Fünfmal am Tag beteten sie. Haroun rezitierte die Texte aus dem Gedächtnis, und sogar Jamil schloss sich ihnen an. Das Mädchen saß stumm daneben und schaute zu. Nicht eine Sekunde ließ sie Jai aus den Augen, egal wohin er ging. Eines Tages, als sie gerade Vorbereitungen für die Mittagsruhe trafen, beugte sich Jamil an Jais Ohr. Danach bauten die beiden gemeinsam ein Blutzelt für das Mädchen, sogar an die roten Bänder dachten sie. Doch das Mädchen war nur schwer dazu zu bringen, von Jais Seite zu weichen. Erst als er das Tuch vor dem Eingang ein Stück zurückschlug, damit sie ihn sehen konnte, ging sie hinein.
Jai hatte immer davon gesprochen, eines Tages eines der stets aufgeregt plappernden Mädchen vom Aruna-Nagar-Markt zu heiraten, und jetzt kümmerte er sich um dieses ängstliche stumme Mädchen, als sei sie seine Schwester. Mir scheint, als würde dein Leben auch nicht so laufen, wie du es dir vorgestellt hast , dachte Kazim. Beim Frühstück legte er Jai einen Arm um die Schulter. »Wie geht’s dir, kleiner Bruder?«
»Ich bekomme kaum Luft vor Angst«, gestand er, »aber ich muss mich um Keita kümmern.«
»Ist das ihr Name?«
»Sie spricht mit mir, aber nur wenig. Ich habe ihr versprochen, mich um sie zu kümmern.« Er straffte die Schultern. »Also werde ich es wohl tun müssen.« Ein Hauch von Bedauern lag in seiner Stimme, von Träumen, die fürs Erste aufgeschoben waren, aber nicht vergessen.
Kazim schloss ihn in die Arme. »Ich werde mich auch um sie kümmern, Bruder. Sie
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