Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
wartete der Adel. In wenigen Minuten würde der Gouverneur erscheinen und sie in einer Prozession durch den Pöbel hindurch in die Kathedrale führen. Im Rathaushof versammelt standen die Grundbesitzer, die reichsten unter den Händlern und – am wichtigsten von allen – die Magusfamilien Norosteins, die allerdings nicht zahlreich waren. Nur wenige der Nachkommen der Gesegneten Dreihundert hatte es nach Noros gezogen, und die Revolte hatte unter ihnen einen beträchtlichen Blutzoll gefordert. Etwa siebzig waren es insgesamt, die jetzt unter einer Plane zusammengedrängt standen. Ein paar der Jüngeren trugen ihre Fähigkeiten zur Schau und hielten – abseits der Plane – mit der Kraft der Gnosis den Regen ab. Eine junge Frau unterhielt ihre Freunde, indem sie den Regen zu Fantasiegeschöpfen formte. Gelächter lag in der Luft, aber auch Spannung, denn junge Magi suchten stets nach einer Gelegenheit, schwächere Rivalen ihre Überlegenheit spüren zu lassen.
Ein kleiner dürrer Junge mit olivenfarbenem Teint schlängelte sich wie ein Wurm durch die Menge und wischte sich immer wieder das nasse schwarze Haar aus dem Gesicht. Die Farbe seiner Haut sagte jedem, dass er ein Fremder war. Das Stimmengewirr und die Wärme der dicht beieinanderstehenden Menschen schlugen ihm entgegen wie eine Wand, aber er schaffte es, sich selbst an den übermütigsten Jünglingen vorbeizuquetschen, ohne übermäßige Aufmerksamkeit zu erregen. Er spähte in die dunkelsten Ecken, in denen sich die Leichtgewichte unter den Maguskindern verkrochen hatten, bis er fand, was er suchte. Dann stellte er sich neben die schlaksige Gestalt, der das Wasser – oder war es Rotz? – von der langen dünnen Nase troff. Dünnes, rötlich braunes Haar klebte an dem blassen, missmutig dreinschauenden Gesicht.
»Alaron«, begrüßte der dunkelhäutige Neuankömmling seinen Freund und hielt ihm einen kleinen Weidenkorb voll dampfender süßer Schmalzkuchen unter die triefende Nase. Beide trugen die Robe des Zauberturms, der gnostischen Jungenschule in Norostein. »Ganze drei Heller hab ich dafür bezahlt! Rukka Hel, das nenn ich Festtagspreise!« Er nahm ein Küchlein und schluckte es in einem Stück hinunter, dann streckte er den Korb wieder seinem Freund hin. »Verdammte Händler, was?«, fügte er lachend hinzu.
»Danke, Ramon.« Alaron Merser grinste. Sein Vater Vann war selbst Händler. Er stand nur ein paar Schritte weit weg und unterhielt sich mit Jostyn Beler. Alaron schlang ein Küchlein hinunter und blickte sich um. »Was für eine Zeitverschwendung. Der Gottesdienst wird mindestens drei Stunden dauern.«
»Zumindest sind wir drinnen«, merkte Ramon an. »Die Gemeinen werden den ganzen Nachmittag hier draußen im Regen stehen müssen. Und sie können sich nicht mal hinsetzen.« Er ließ den Blick über die Menge schweifen wie ein Frettchen, das vorsichtig aus seinem Bau späht. Ramon Sensini war ein eher verschlossener junger Mann, Sohn eines rondelmarischen Magus’, dessen Namen zu nennen er sich standhaft weigerte, und eines silacischen Tavernenmädchens. Die Wachen am Zauberturm hatten ihn zunächst nicht einlassen wollen, obwohl er genug Geld dabeihatte, um für das erste Schuljahr zu bezahlen. Schließlich hatte er dem Vorsteher einen Brief gezeigt, und der hatte ihn aufgenommen.
Wie immer begann Alaron, sich über das Fest auszulassen. »Wusstest du, dass sie jeden einzelnen sollanischen Festtag durch irgendein bescheuertes Kore-Ritual ersetzt haben? Ich meine, das ist doch unglaublich, oder? Es gibt nicht mal Beweise dafür, dass die Gnosis irgendwas mit Kore zu tun hat! Und Johan Corin war selbst Sollaner! Warum erinnert sich keiner mehr daran? In einem Buch hab ich gelesen, dass …«
»Alaron, schhhh! Ich bin ja deiner Meinung, aber das ist Ketzerei.« Ramon legte einen Finger auf die Lippen, dann deutete er auf ein Mädchen ganz in der Nähe. »He, sieh mal, da ist Gina Beler. Habt ihr beide nicht bald Verlobung?«
»Nein!«, brummte Alaron verdrossen. »Zumindest nicht, wenn ich dabei was mitzureden habe.«
»Was du aber nicht hast«, erklärte Ramon mitleidlos.
Alaron beäugte das mollige blonde Mädchen an Jostyn Belers Arm.
Sein Vater Vann winkte ihm, er solle doch herüberkommen.
»Ich rede nicht mit dieser blöden Kuh«, knurrte Alaron und tat so, als hätte er nichts gesehen. Er blickte Ramon von oben herab an. »Ich kann es nicht fassen, dass du drei Heller für vier Schmalzkuchen bezahlt hast. Das ist mehr als das
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