Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Nacht weitertanzen können, aber Timori schlief schon fast auf Elenas Arm, und Cera konnte die Augen kaum noch offen halten.
»Ich bin so froh, dass ich hierbleiben kann«, erklärte Solinde. »Es wäre furchtbar, wenn ich Eijeed verpassen würde. Und der große Ball morgen wird der schönste, den wir je gesehen haben.«
Cera zuckte die Achseln. »Wenigstens eine von uns sollte Mutter begleiten und Tante Homeirah noch einmal besuchen, bevor sie stirbt«, sagte sie scheinheilig, und Elena musste an ihre eigene Schwester denken. Tesla war ein genauso aufgewecktes Kind gewesen wie Solinde, Elena selbst eher still wie Cera. Vielleicht sah sie in Cera auch die Tochter, die sie nie hatte, denn statt die umliegenden Wälder und Hügel zu erforschen, wie Elena es als Kind getan hatte, vergrub sich Cera lieber in Büchern und Gedanken.
»Natürlich würde ich auch gerne mitkommen«, erwiderte Solinde hastig, weil sie nicht so herzlos dastehen wollte. »Aber, du weißt ja …«
Cera schnitt eine Grimasse. »Ja, ich weiß: Fernando Tolidi hier, Fernando Tolidi da …«
»Du bist gemein! Ich habe mit allen getanzt.«
»Ja, das hast du«, mischte Elena sich ein, »aber jetzt ist es Zeit zu schlafen. Ins Bett mit euch, sofort.«
Sie trug Timori in sein Zimmer, während Borsa die beiden Mädchen auf die ihren scheuchte. Timori war schon fast eingeschlafen, und sie legte ihn ins Bett, wie er war, zog nur die dünne Decke über ihn und gab ihm einen Gutenachtkuss. Der javonische Prinz sah so klein aus in dem riesigen Bett, sein Gesicht so friedlich. Dicke dunkelrote Kerzen erfüllten den Raum mit Rosen- und Zimtduft, und der flackernde Schein der Flammen erweckte die Figuren auf den Wandteppichen zu eigenartigem Leben.
Als sie hinüber zu den Mädchen ging, umarmte Cera sie innig, drehte sich um und schlief anscheinend sofort ein. Unter ihrem Kissen sah Elena ein Buch hervorlugen, ließ es aber dort.
Solinde winkte ihr nur kurz zu, die Gedanken immer noch bei den Rittern, die sie die ganze Nacht umschwirrt hatten wie Motten das Licht.
Wie immer wartete Borsa in der Vorhalle und sah zu, wie Elena in die Mitte des Raums schritt, um dort ihre gnostischen Schutzzauber zu sprechen. Gemessen erhob sie die Arme, und ein Gitternetz aus blassen weißen Linien erschien auf Wänden, Decke und Boden. Am dicksten waren die Linien an Türen und Fenstern. Es waren die Wächter, die sie rief, und nur wer von ihr selbst autorisiert worden war, konnte an ihnen vorbei. Jeder andere würde nur hineinkommen, wenn es ihm gelang, die physischen und geistigen Qualen zu überwinden, die die Wächter über ihn bringen würden. Kein undurchdringlicher Schutz, aber zusammen mit Stein, Schloss und Riegel hielt er jeden ab, der nicht außergewöhnlich geschickt und zum Äußersten entschlossen war. Als sie fertig war, schloss Elena ihr inneres Auge und ließ die Gnosis von sich abfließen.
Borsa, die es mittlerweile gewohnt war, Zeugin solcher Wunder zu werden, beobachtete sie gelassen. »Die Mädchen waren so fröhlich heute Abend«, sagte die alte Amme. »Solinde wird so schnell erwachsen.«
»Zu schnell vielleicht?«
»Aber nein, es ist nichts Schlechtes daran. Es ist gut, wenn sie bald heiraten will. Sie ist ein so gutes Mädchen. Cera sollte sich ein Beispiel an ihr nehmen und ein bisschen offener sein. Sie wird als Erste heiraten müssen, aber sie bemerkt die jungen Männer kaum.« Die Dienerin legte die Stirn in Falten. »Ihr gebt ihr zu viele Bücher, Ella. Sie denkt zu viel und fühlt zu wenig.«
Elena zog eine Augenbraue hoch. »Das ist ein bisschen hart, findest du nicht? Sie ist eine Prinzessin. Eines Tages wird sie eins der Herzogtümer mit regieren, vielleicht das ganze Königreich. Es ist nur gut, wenn sie lernt, logisch zu denken und zu urteilen.«
»Ihre oberste Pflicht wird sein, Kinder zu bekommen«, widersprach Borsa. »Außerdem muss sie sich auf das Leben vorbereiten, das sie führen wird, nicht auf das, das sie gerne führen würde.«
Elena seufzte. Wie oft hatte sie das zu hören bekommen, als sie selbst noch ein Kind war? »Cera ist intelligent, pflichtbewusst und mutig. Sie hat auch eine sehr sanfte und fürsorgliche Seite, und du weißt das.«
»Ja, ja, das weiß ich.« Borsa schürzte die Lippen. »Ich finde sie nur manchmal ein bisschen … kalt.«
»Das Gefühl hatte ich bei ihr noch nie.«
»Über Euch würden viele dasselbe sagen«, erwiderte Borsa. »Ihr Magi kommt aus einem kalten Land. Ihr tragt die Kälte in
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