Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
nickte stumm. Gefühle wallten in ihr auf, als würde Blut durch Adern fließen, die lange trockengelegen hatten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, wie sie mit den Gefühlen umgehen sollte, die sie vor so langer Zeit abgetötet hatte.
Olfuss schien zu verstehen, was in ihr vorging, denn er humpelte davon, zog die Tür zur Kapelle hinter sich zu und ließ sie allein in der hallenden Stille.
Der Rest des Tages bestand aus einer rauschenden Abfolge von religiösen Zeremonien. Die Rimonier begingen den Abend vor Sammana mit einem höfischen Fest, auf dessen Höhepunkt traditionelle Lieder gesungen wurden und dazu getanzt wurde. Um Mitternacht folgten rituelle Gesänge am offenen Feuer, danach leiteten die Drui die Gebete zu Vater Sol an und baten um seinen Segen für den kommenden Winter. König Olfuss sah so herrschaftlich aus, als wäre er Sol selbst, und Fadah an seiner Seite wirkte so dunkel und geheimnisvoll wie die Mondgöttin Lune. Cera trug ein silbrig graues Gewand, während Solinde in purem Gold erstrahlte und ein ganzer Hofstaat in sie vernarrter junger Männer ihr auf Schritt und Tritt folgte. Sie tanzte beinahe die ganze Zeit mit Fernando Tolidi, einem jungen Gorgio – einer der wenigen, die den Mut gehabt hatten, die Festung bei Hytel zu verlassen, um an den Feierlichkeiten in der Hauptstadt teilzunehmen. Es war typisch für Solinde, genau den Tanzpartner zu wählen, über den sich die Anwesenden am meisten aufregen würden, auch wenn Fernando ein beeindruckender junger Mann war und weit sympathischer als der Rest seines Hauses. Auch am nächsten Tag würde Solinde zweifellos den gesamten Hof schockieren und beim großen Ball wieder mit ihm tanzen.
Alle wichtigen rimonischen Familien waren anwesend, aber kein einziger Jhafi, weil die Jhafi am letzten Tag des heiligen Amteh-Monats fasteten. Nur die Rimonier feierten Sammana – das weit ausgelassenere und beliebtere Eijeedfest der Jhafi würde erst am morgigen Tag die Straßen mit Leben erfüllen, und gemeinsam würden die beiden Festtage die ganze Stadt in einen einzigen Ball verwandeln.
Elena war fasziniert von Javons Geschichte. Nach der Erschaffung der Leviathanbrücke war eine Handvoll Rimonier nach Ja’afar, das sie Javon nannten, gekommen, um Handel zu treiben. Sie fanden Klima und Landschaft ihrem Zuhause sehr ähnlich, kauften Land und versuchten sich im Anbau von Oliven, Trauben und anderen Saaten, die sie mitgebracht hatten. Sie wurden heimisch, und im Lauf der Jahre vor den ersten Kriegszügen emigrierten Zehntausende auf der Flucht vor der Unterdrückung durch die Rondelmarer von Yuros nach Javon. Man hatte viele Kompromisse geschlossen, um keinen Krieg mit den Jhafi zu provozieren, und jetzt war das Königreich wohlhabend und stark. Ein Guru aus Lakh hatte einen Friedensvertrag ausgehandelt, der jeglichen Bürgerkrieg verhinderte. Ein essenzieller Bestandteil dieses Vertrags war, dass jeder Herrscher gemischten Blutes sein musste. Das Gesetz war auf beiden Seiten nicht gerade beliebt, aber der Wunsch, nicht im Chaos des Krieges zu versinken, war groß, und der Guru wurde von allen zutiefst respektiert. Schließlich stimmten alle führenden Häuser beider Volksgruppen zu, und es wurden Gesetze geschaffen, die sowohl die Anhänger des Sollan-Glaubens als auch die des Amteh-Kults schützten. So hatte sich nach und nach ein einzigartiges Volk entwickelt, ein Ort, den Elena zu lieben gelernt hatte.
Sie tanzte nur selten und wenn, nur den Kindern zuliebe. Sie hatte keine Lust, sich der alleinstehenden Männer erwehren zu müssen. Lorenzo beobachtete sie mit bewundernden Blicken, aber sie hielt sich von ihm fern. Erst als sie Hand in Hand mit Cera und Timori an Mitternacht am Feuer die Lieder sang und mit ihnen betete, die Sonne möge in all ihrer Pracht im nächsten Frühling wiederkehren, spürte sie in sich eine Wärme, die kein Wein und kein Schnaps ihr hätten bescheren können. Es fühlte sich beinahe an wie Glück.
Und die ganze Zeit über war sie sich Rutt Sordells saurer Miene bewusst, der irgendwo herumlungerte, während Samir Taguine mit finsterem Gesicht Becher um Becher in sich hineinkippte. Ich sehe die Sache genauso wie Ihr, Olfuss, und kann es kaum erwarten, die beiden loszuwerden .
Gemeinsam mit dem Kindermädchen Borsa brachte sie Cera, Timori und Solinde zurück zum Wohnturm. Die alte Frau hatte eindeutig zu tief ins Glas geschaut, beherrschte sich aber erstaunlich gut. Solinde wirkte, als hätte sie noch die ganze
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