Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Eurem Herzen.«
Elena wollte verärgert widersprechen, zwang sich aber, den Mund zu halten. Borsa diente schon so lange an diesem Hof, sie hatte das Recht zu sagen, was sie dachte, selbst zu einer Magierin. »Zu Hause in Noros gelte ich als fröhlich, immer und überall«, widersprach sie gut gelaunt.
»Wirklich?«, fragte Borsa.
»Nein.« Elena gähnte demonstrativ. »Zeit fürs Bett.«
»Um den Fängen einer alten nörgelnden Frau zu entkommen, ist jede Ausrede recht, nicht wahr?«, gab Borsa trocken zurück und umarmte sie. Dann ging sie, und Elena konnte endlich auf ihr Zimmer gehen.
Ihre Gedanken waren in Aufruhr. Trag dein Amulett.
Aber ich bin noch nicht bereit zu gehen, Gurvon. Ich glaube, das ist der Ort, an den ich gehöre.
Sie dachte an die arme Tesla, wie sie halb dem Wahnsinn verfallen vor sich hin siechte, und sie dachte an Teslas Mann, Vann Merser, den sie eigentlich hatte hassen wollen, doch stattdessen mochte. Er war ein mutiger, bedachter Mann, ehemaliger Soldat, der mit Handel sein Geld verdiente und alle Hände voll zu tun hatte, die Familie in diesen düsteren Zeiten über Wasser zu halten. Er hoffte, ihr Neffe Alaron, ein Viertelblutmagus, würde eines Tages die Familie vor dem Ruin retten. Elena erinnerte sich an einen dünnen Jungen mit glattem rötlichem Haar und streitlustigem Charakter. Bald wäre er mit dem Arkanum fertig. An ihren eigenen Abschluss konnte sie sich noch erinnern, als sei es erst gestern gewesen: an den Händedruck des Gouverneurs und das eigenartige Lächeln auf Luc Battos Gesicht, als sie die Auszeichnung für die beste Kämpferin unter allen Mädchen der Schule entgegennahm. Es war ein Ende und gleichzeitig ein Anfang gewesen.
Viel Glück, Alaron. Es liegt alles noch vor dir.
Die Standarten von Noros
Die Magi
Gesegnet sind die Magi, die Nachkommen des Corineus und der Gesegneten Dreihundert, von Gott berührt, um zu herrschen über Erde und Himmel.
Das Buch Kore
Shaitan, was hast du getan? Erde und Himmel hast du verpestet mit Dschinns und Ifrits, lässt Dämonen kriechen, unsichtbar unter unseren Füßen. Den Boden hast du verdorben und die Brunnen vergiftet und das Übel Fleisch werden lassen in deiner Brut, den rondelmarischen Magi.
Yameed Umafi,
Gottessprecher der Großen Zusammenkunft, 926
Norostein in Noros, Yuros
Okten 927
9 Monate bis zur Mondflut
Norostein, Noros’ Hauptstadt, lag auf einem Hochplateau nördlich des großen Gebirgszugs. Daneben erstreckte sich ein eisig kalter See, der die Hälfte der Altstadt verschlungen hatte, nachdem der Rat beschlossen hatte, den Zufluss aufzustauen, um das Wasser für die Versorgung der Stadt zu nutzen. Manche sagten, Geister würden dort unten auf den überfluteten Friedhöfen leben, Wiedergänger aus der Vergangenheit, und den Unachtsamen hinunter in ihr nasses Grab ziehen. Wenn es lange nicht geregnet hatte, das Wasser klar und der Wasserspiegel niedrig war, konnte man in der Tiefe die alten Gebäude erkennen. Doch heute war kein solcher Tag: Heftige Regengüsse schickten sich an, die Finsterlichtfeier zu verderben – jenes Fest, durch das die Anhänger Kores das sollanische Sammana ersetzt hatten. Unbarmherzig überfluteten Wolkenbrüche die Plätze der Stadt und löschten so manches der offenen Feuer. Mit Pech getränkte Fackeln flackerten und zischten mürrisch im Regen.
Bis auf die Knochen durchnässt, stand das Volk vor der Kathedrale, triefend und mit roten Augen, und wartete auf die Mittagsmesse. Die mit Magusblut durften hinein, aber das gewöhnliche Volk musste auf dem Platz ausharren und betete um den göttlichen Segen genauso wie darum, dass der Regen endlich aufhören möge. Taschendiebe arbeiteten sich durch die Menge, und die Betrunkenen, immer noch taumelnd von der Zecherei der letzten Nacht, pinkelten, wohin sie wollten – meistens auf die Absätze des Vordermanns. Junge Männer streiften umher, begafften die Mädchen und taten so, als würden sie nicht gaffen. Blasse Haut und fettiges dunkles Haar, bedeckt von weißen Hauben und grünen Filzhüten, wogten hin und her wie Wellen auf dem Meer. Immer wieder hallten spontane Gesänge über den Platz, Lieder von der Revolte, traditionelle Lieder, die von den Königreichen im Gebirge erzählten, alte Volksweisen. Ein paar harmlose Raufereien hielten die Stadtwache auf Trab, es roch nach Schweiß und Bier, der Rauch von den Essensständen vermischte sich mit dem Regen, aber die Menschen waren guter Stimmung.
Im Innenhof des Rathauses
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