Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
anderen Weg finden müssen, weiter zu lernen.«
»Wir können nach den Prüfungen weitermachen«, schlug Alaron vor. »Wir haben dann einen offiziellen Abschluss und müssten es nicht mal mehr heimlich machen.«
Cym schüttelte den Kopf. »Wir brechen am Freyadag auf. Wir müssen in Lantris sein, bevor der erste Schnee fällt.«
»Kommst du im Frühling wieder?« Alaron schaffte es einfach nicht, den Kummer in seiner Stimme zu verbergen.
»Vielleicht. Wer weiß?« Sie beugte sich nach vorn, die Augen voll Wissbegier. »Was kannst du mir heute beibringen?«
Die nächsten beiden Stunden verbrachte er damit, Cym die Übungen zu zeigen, die er neu gelernt hatte, und ihren Fortschritt bei den alten zu überprüfen. Wie üblich hatte sie ihn mit ihrem Können bereits überholt, und schließlich half sie ihm genauso viel wie er ihr. Alaron hoffte so sehr, eines Tages ein besserer Magus zu sein, aber bis dahin würde wohl noch einige Zeit vergehen. Er versuchte, die Flammen des kleinen Feuers zu formen, aber es zischte nur kurz, dann verloschen sie mit einem entmutigenden Ploppen.
»Lass es fließen, Alaron«, tadelte sie ihn. »Du bist zu verkrampft. Entspann dich, lass es durch dich hindurchfließen. Wie Wasser.«
»Das kann ich nicht!«, stöhnte er. »Ich kann es einfach nicht.«
»Du bist ein Magus, lass es einfach passieren! Wie das Normalste auf der Welt.«
»Magie ist nicht normal, sie ist so unnormal, wie etwas nur sein kann«, gab er niedergeschlagen zurück. Er war müde und kam sich vor wie ein Idiot. Draußen ging gerade der Mond auf. Das große Halbrund bedeckte beinahe die Hälfte des Himmels, so groß und nah, als könne er es berühren – eher als Cym zumindest.
Das Mädchen folgte seinem Blick. Cym schauderte und zog die Decke enger um sich. Der riesige Mond war ihr nicht geheuer. »Besser, du gehst jetzt. Du bist zu müde, um weiterzumachen. Geh nach Hause.«
Er wusste, sie hatte recht, aber jetzt einfach nur gute Nacht zu sagen war, als würde sich eine Tür zu so vielen unerfüllten Träumen schließen. Alaron überlegte noch, was er sagen könnte, da war Cym schon unter dem zerfledderten Ledervorhang, der als Türersatz diente, nach draußen geschlüpft. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Cym drehte sich um. »Es ist so weit: Nach sieben Jahren ist das jetzt das Ende für uns beide. Ich weiß gar nicht, wie ich dir für all die Unterrichtsstunden danken kann.«
Alaron wollte etwas Charmantes, Witziges oder Romantisches erwidern, aber er blieb stumm.
»Schhh.« Cym legte ihm einen Finger auf die Lippen und drückte ihm etwas in die Hand.
Alaron blickte nach unten: ein Kupferamulett mit einer Rose – der Rimonischen Rose. Er hielt sie fest umschlossen und merkte, dass er weinte.
»Oh Alaron, du Dummkopf!« Cym kniff ihn in die Wange, dann war sie schon einen Schritt weit weg, dann zwei, dann zehn. Dann hatten die Schatten der alten Stadtmauer sie verschlungen, und sie war fort. Vielleicht für immer.
Am letzten Tag des Schuljahres sprach der Vorsteher zu ihnen. Die anderen Schüler waren bereits abgereist, und der normalerweise so belebte alte Turm fühlte sich seltsam ausgestorben an. Schulvorsteher Lucien Gavius war aus politischen Gründen ernannt worden, Gouverneur Vult höchstpersönlich hatte sich für ihn starkgemacht und den blutleeren Faulpelz zum Direktor befördern lassen. Gavius schwafelte von den kommenden Prüfungen, aber sie wussten auch so, was kommen würde: Der Novelev dauerte noch vier Wochen, und in jeder davon erwartete sie eine Reihe Prüfungen. In der ersten kamen die wissenschaftlichen Fächer dran: Geschichte, Theologie, Infinitesimalrechnung und natürlich Rondelmarisch, um zu sehen, ob sie lesen und schreiben konnten. Infinitesimalrechnung wird das Schlimmste , dachte Alaron, auch wenn die Abschlussarbeit eigentlich viel entscheidender war. Am nächsten Freyadag mussten sie sie präsentieren. Musterungsoffiziere würden da sein und auch Gelehrte. Die Abschlussarbeit war die Gelegenheit, etwas Wertvolles zum Wissensschatz der Magigemeinschaft beizutragen. Viele sahen darin den wichtigsten Teil der Prüfungen.
Die zweite Woche war ganz dem Kampf gewidmet. Sie würden ihre Fähigkeiten mit Projektilwaffen und ihr reiterliches Können unter Beweis stellen müssen. Außerdem mussten sie gegen aus den Reihen der Wachsoldaten ausgewählte Gegner antreten, ohne sich der Gnosis zu bedienen. Auch wenn dabei nur stumpfe Waffen zum Einsatz kamen, diese
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