Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
ein glückliches Leben, auch wenn er Krieg und Tod aus nächster Nähe gesehen hatte.
Er öffnete die Augen und spähte hinaus in die dunstige Herbstluft. Das gleißende Sonnenlicht vertrieb die morgendliche Kühle zusehends. Er hatte seinen Blutsbruder Raz Makani und dessen Familie mit zum Fluss genommen, und das, obwohl Raz ein Amteh war. Mit seinen beiden Kindern hatte Raz zugesehen, wie Ispal und die Seinen zu Vishnarayan und Sivraman gebetet hatten und natürlich zu Gann, denn Gann war der Gott des Glücks. Er war eher unscheinbar im Vergleich zu den mächtigeren Göttern, aber nichtsdestoweniger war es wesentlich besser, mit seiner Gunst zu leben als ohne sie.
Danach brachte seine Frau Tanuva die Kinder nach Hause, während er mit Raz bei einer Pfeife zusammensaß und sie ein wenig über die alten Tage plauderten. Für alle, die ihn nicht kannten, war Raz die Ausgeburt eines Albtraums, auch nach zweiundzwanzig Jahren immer noch schrecklich entstellt durch seine Brandnarben. Raz war ein Mann, der sich oft in bitteres Schweigen hüllte. Er und Ispal hatten sich im Jahr 904 kennengelernt. Ispal war nach Norden gereist, weil er gehört hatte, dass auf dem Markt in Hebusal mit den hellhäutigen Ferang viel Geld zu verdienen sei. Es war das erste Mal, dass er Baranasi verließ, ganz zu schweigen von Lakh. Und was für eine beeindruckende Reise das gewesen war: durch Wüsten, Gebirge und Flüsse, eine unbeschreibliche Erfahrung! Und was für ein schrecklicher Albtraum, denn diesmal hatten die Ferang nicht Händler, sondern Soldaten geschickt. Ispal hatte all seine Waren verloren und beinahe auch sein Leben. Er, ein Mann des Friedens.
Doch er hatte überlebt und dem grimmigen Keshi-Krieger Raz Makani das Leben gerettet. Raz war so entsetzlich verbrannt gewesen, dass kaum Hoffnung für ihn zu bestehen schien. Nachdem der Krieg zu Ende war, hatte er ihn und seine Frau mit nach Süden genommen, und jetzt waren sie Brüder – Männer, die gemeinsam dem Tod ins Auge geblickt und überlebt hatten. Raz’ Frau blieb bei ihm, obwohl er so entsetzlich zugerichtet war, und gebar ihm zwei Kinder, bevor sie starb. Die beiden Männer hatten viel miteinander erlebt, und Raz hatte seinen Sohn Ispals Tochter versprochen. Ein Zeichen ihrer Verbundenheit, das die Götter erfreuen würde.
Wie üblich ließ Ispal seinen Freund schließlich allein zurück, an seiner schattigen Lieblingsstelle, von der aus er den Fluss beobachten konnte. Er ließ ihm ein Säckchen Tabak da, gut mit Ganja gemischt, und ein Fläschchen Arrak. Es würden auch noch andere Freunde nach Raz sehen und Zeit mit ihm verbringen. Er mochte furchterregend aussehen, aber er gehörte zu ihnen, war Teil ihrer Gemeinschaft.
Ispal schlenderte über den Marktplatz und begutachtete die neue Ware. Gerade kam eine Karawane mit Teppichen aus Lokistan. Die Träger luden sie unter dem wachsamen Blick von Ramesh Sankar ab.
Als Ramesh ihn sah, rief er: »Ispal, alter Halsabschneider, Interesse an einem Teppich?«
»Nicht heute, Ram. Vielleicht morgen. Gute Qualität, wie? Und keine unliebsamen Überraschungen diesmal?« Dann lachten sie beide, denn bei der letzten Lieferung hatte sich eine schlafende Kobra in einer Teppichrolle versteckt. Ein Schlangenbeschwörer hatte das völlig verängstigte Tier beruhigen können und es behalten – so hatten schließlich alle von der Sache profitiert.
Gemeinsam beobachteten sie, wie weitere Lieferungen abgeladen wurden. Keiner der beiden hatte einen Stand hier auf dem Markt. Sie verkauften nur in großen Mengen direkt von ihren Lagerhäusern aus, aber der Markt war der Ort, an dem jedes Geschäft eingefädelt wurde. Immer mehr Händler kamen hinzu, Männer, die einander kannten wie Brüder, und alle inspizierten sie alles, was geliefert wurde, boten auf alles, was ihnen interessant erschien. Gewürz- und Teeblätter aus dem Süden verbreiteten ihren erdigen Duft, Frauen mit von der Sonne geschwärzter Haut leerten ganze Säcke voll Chilischoten, Kardamomsamen und Zimtstangen auf die bereitgelegten Decken, über Kohlefeuern wurden Erdnüsse geröstet. Man ging nicht einfach über diesen Markt, man schlenderte von Stand zu Stand, während immer noch mehr Leute hinzuströmten. Dies war die Wiege des Lebens, und ihr Lärm hing in der Luft, dicker als der Rauch der Feuerstellen. Musik erschallte, Affen führten ihre Kunststückchen vor, und Fremde glotzten – leichte Opfer für die Skrupellosen, und von denen gab es viele.
Der Markt war
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