Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
zu sehen, was vor sich ging, und wurden im Handumdrehen in den Streit hineingezogen. Schließlich sah Ramita, wie Kazim auf die Straße hinausgeworfen wurde und davonrannte, die Fäuste immer noch geballt. Es war schrecklich.
Danach war an Schlaf nicht mehr zu denken. Stunde um Stunde verbrachte sie wie unter Schock, fühlte sich innerlich vollkommen leer. Sie konnte nicht fassen, was geschehen war.
Kurz vor Einbruch der Dämmerung hörte sie ein leises Klopfen, und Guru Dev kam herein. Huriya verdrückte sich, um sie mit dem alten Gelehrten, dem Mentor und spirituellen Führer der Familie, allein zu lassen. Trotz all des Zorns, der in ihr wütete, stand sie auf und kniete sich vor seine schwieligen Füße, hörte aus Respekt, was er zu sagen hatte.
Guru Dev sprach von Opfern, von kleinen Tropfen, die eines Tages einen Ozean füllen, und davon, Teil eines großen Ganzen zu sein. Eine pflichtbewusste Tochter gehorcht, rief er ihr ins Gedächtnis. Er sprach von Belohnungen im Jenseits und davon, wie der Himmel sich freute über jede gute Tat jedes noch so unbedeutenden Mädchens. Er sprach von den Mühen ihrer Eltern und deren Eltern, wie stolz sie sein mussten, wenn sie herabblickten und sahen, wie Ramita die Zukunft ihrer Familie gesichert und sie in den höchsten gesellschaftlichen Rang erhoben hatte.
»Dieser alte Ferang, recht viel älter kann er nicht mehr werden. Und wer weiß, was das Leben danach noch für dich bereithält? Du wirst sehen, in ein paar Jahren bis du wieder hier, kehrst als reiche Witwe zurück, in Seidengewänder gehüllt. Stell dir vor, die Freude bei eurem Wiedersehen!«
Die tröstenden Worte des alten Mannes klangen vernünftig. Sie klangen, als könnte Ramita es schaffen, als wäre es vielleicht sogar das Richtige. Doch sie hatte Kazims Augen gesehen, den unsäglichen Schmerz darin, hatte gesehen, wie die Nachbarn ihn blutig geschlagen hatten. Sie hatte seine herzzerreißenden Schreie gehört, halb wahnsinnig vor Kummer. Sie fragte sich, wo er jetzt sein mochte, allein in der kalten Nacht, seine Zukunft in Trümmern.
In den frühen Morgenstunden merkte sie, dass sie zu Guru Devs Füßen eingeschlafen war. Der alte Mann döste in seinem Stuhl, und Huriya blickte sie unverwandt an. Ramita lächelte matt. Ihr Magen knurrte, und ihre Blase war kurz davor zu platzen. Das Leben musste weitergehen. Ganz langsam stand sie auf, nahm Kazims Verlobungsbändchen vom Handgelenk und verstaute es behutsam. Schweigend nahm Huriya ihre Hand, dann schlichen sie gemeinsam nach unten, um sich zu waschen und für den neuen Tag bereit zu machen.
Zwei Tage später war das Eijeedfest noch in vollem Gang. Es gab viele Amteh-Anhänger in Nordlakh, selbst hier in Baranasi am Saum des heiligen Flusses, und die Trommeln hallten durch die gesamte Stadt. Huriya war gegangen, um sich um ihren Vater zu kümmern. Kazim war nicht nach Hause gekommen. Seit zwei Tagen hatte niemand ihn gesehen.
Noch vor dem Morgengrauen wurden die Kinder unter der Wasserpumpe auf der Gasse abgeschrubbt. Tanuva hatte ihre beste Seife mitgebracht, und Ramita meisterte die schwierige Aufgabe, sich in der Öffentlichkeit zu waschen, ohne nackte Haut zu zeigen, mit bewundernswertem Geschick. Sie spülte ihr Haar und wrang das Wasser in einem schäumenden Strom heraus. Mutter und Tante Pashinta malten mit einer Paste Muster auf ihre Füße, Hände und Unterarme, dann zogen sie ihr ihren schönsten Sari an. Schließlich ging die ganze Familie zum heiligen Fluss Imuna, um die aufgehende Sonne zu preisen und Ringelblumen ins dunkle Wasser zu werfen. Überall waren andere Stadtbewohner beim Morgengebet. Jai trug seine sauberste Kurta, um den Kopf hatte er einen großen Turban. Er sah müde aus und lustlos in allem, was er tat. Für seinen Vater hatte er nichts als verächtliche Blicke übrig. Ramita wünschte, er würde endlich nachgeben. Es ließ sich nicht mehr ändern, und Jais Verhalten machte die Sache nicht gerade leichter. Es war schon schwer genug für sie, eine Stunde zu überstehen, ohne zu weinen, und der Zorn ihres Bruders verschlimmerte nur alles. Sie befeuchtete Stirn, Lippen und Brust mit dem heiligen Wasser des Imuna.
Ich schaffe das .
Irgendwann im Lauf der Nacht hatte sie ihren Frieden gemacht mit dem Schicksal, das ihr zugedacht worden war. Es würde schwer werden, denn sie konnte immer noch nicht an Kazim denken, ohne sofort in Tränen auszubrechen, aber sie würde es ertragen. Sie würde die Bürde auf sich nehmen, wie die
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