Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Ispals Hände ergriffen ihren Arm und hielten sie.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, als lese jemand etwas in ihrem Geist wie in einer Schriftrolle. War das dieser Greis? Es war entsetzlich. Ramitas Erinnerungen, ihre Gefühle, was ihr wichtig war, was sie hasste – alles, was sie ausmachte, lag ausgebreitet da wie das Inventar eines Lagers, und der Mann begutachtete es nüchtern. Sie wollte nichts mehr, als sich zu verstecken, aber eine Art verängstigter Trotz in ihr gewann die Oberhand, und sie blieb, wo sie war.
Gutes Mädchen, hörte sie die Worte in ihrem Geist, warm und wohlwollend. Am liebsten hätte sie laut geschrien.
»Sie hat ein schönes Gesicht«, sagte der Mann auf Lakhisch. Selbst seine Stimme war vom Alter gezeichnet. »Bist du bereit, Mädchen?«
»Achaa«, krächzte sie. Alles, was sie sah, war ein fahles Gesicht, faltige Haut und einen strähnigen Bart. Grässlich.
Die Kapuze wandte sich ihrem Vater zu, und Ramita bekam endlich wieder Luft. »Gut, Meister Ankesharan. Sie ist tauglich. Beginnt mit der Zeremonie.« Er schien der Meinung, alles würde sofort über die Bühne gehen.
Ispal schüttelte den Kopf. »Aber nein, Saheb. Es gibt Vorbereitungen, die noch getroffen werden müssen. Mein Guru wird die Zeremonie leiten. Die Hochzeit findet am Tag vor dem heiligen Fest statt.«
»Ausgeschlossen«, zischte der Jadugara. »Ich muss unverzüglich nach Norden zurückkehren.«
Ispal setzte eine hilflose Miene auf, die Ramita von unzähligen Verhandlungen auf dem Marktplatz nur allzu gut kannte. Sie fragte sich, wie er so ruhig bleiben konnte. »Aber nein, Saheb. Die Zeremonie muss genau so stattfinden, wie Guru Dev sagt. Das gebietet die Tradition.«
Meiros’ leere Kapuze drehte sich zu Vikash um. »Ist das so?«
Vikash wackelte mit dem Kopf. »Aber ja, Saheb.«
Meiros schnaubte verächtlich. »Aber ja, Saheb, aber nein, Saheb«, murmelte er mit einem Seufzen. »Nun gut, Meister Vikash, dann trefft Eure Vorbereitungen. Aber alles muss mit Hauptmann Lem abgesprochen sein, verstanden?«
»Aber ja, Saheb.«
Verärgert blickte Meiros sich um. »Gibt es irgendein anderes Ritual, das jetzt an Ort und Stelle erledigt werden muss?«
Ispal sah verwirrt aus. Er winkte Guru Dev heran, und nach einer kurzen Debatte wurde ein kleines Kästchen mit einem Bild von Parvasi und einer Siv-Linga gebracht. Guru Dev tauchte die Fingerspitze in eine Schale mit einer karmesinroten Paste darin und malte Ramita einen kleinen Kreis auf die Stirn. Als er bei Meiros dasselbe tun wollte, hielt seine Hand irritiert vor dem Rubin inne.
»Genug«, zischte der Magus. »Ich habe keine Geduld für solche Dinge. Hiermit betrachte ich uns als verlobt. Du auch, Mädchen?«
Ramita zuckte zusammen, als sie merkte, dass er sie meinte. »Achaa. Ich meine: ja, Herr«, stammelte sie. Sie wagte nicht, irgendetwas anderes zu erwidern.
»Dann sind wir hier fertig?«, fragte Meiros.
Ispal verneigte sich. »Ja, Herr.« Seine Stimme versagte. »Wenn Ihr jetzt bitte mit nach drinnen kommen und mit uns Tee trinken wollt? Wir haben …«
»Wohl kaum. Einen angenehmen Tag noch, Meister Ankesharan.«
Und dann war er fort, genauso schnell, wie er gekommen war. Hinter ihm füllte sich die Gasse im Nu mit allen, die von den Fenstern aus zugesehen hatten. Jeder gab zum Besten, was er beobachtet hatte, und jeder hatte Fragen: »Wer war das? Hast du sein Gesicht gesehen? Ja, hab ich, er ist ein Prinz aus Lokistan, wie ich’s dir gesagt hab! Aber nein, er ist ein …«
Ispal kaute einen Moment lang auf der Unterlippe herum. »Nun, ich nehme an, er ist Besseres gewohnt«, sagte er schließlich zu seiner zutiefst gekränkten Frau. Der Tisch drinnen konnte die vielen Speisen kaum tragen, die sie, Ramita und Pashinta über die letzten beiden Tage hinweg zubereitet hatten. »Und bei dir wird das bald genauso sein«, flüsterte er Ramita zu.
Ramita zitterte am ganzen Körper. Sie war wütend auf diesen alten Kauz, der einfach so hereingeplatzt war und sich einen Dreck um ihre Gefühle geschert hatte, um die ganze Arbeit, die sie sich seinetwegen gemacht hatten. Hatten diese Ferang denn überhaupt kein Benehmen? Was für ein arrogantes Pack! Sie funkelte ihren Vater an. »Er ist ein unhöflicher Rüpel«, erklärte sie ihm unumwunden, »ungehobelt und eingebildet. Ich mag ihn nicht.« Jetzt war Ispal es, der zusammenzuckte, doch Ramita ließ ihn stehen und ging stampfend auf ihr Zimmer. Sie wollte allein sein.
Wo bist du, Kazim? Bitte, komm
Weitere Kostenlose Bücher