Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
es aus Jai heraus. »Jetzt musst du nur noch verkaufen, bis alles weg ist. Es ist schon fast Mittag, Huriya wird bald hier sein und dir helfen.« Huriya war Kazims Schwester, Ramitas beste Freundin. »Bitte …«
Kazim eilte ihm mit einem hoffnungsvollen Lächeln zu Hilfe, und die Sache war entschieden.
»Na gut, geht schon. Geht!« Sie fuchtelte mit den Händen, die Augen fest auf ihren Verlobten gerichtet. »Geht und vergnügt euch. Männer und ihre sinnlosen Vergnügungen.« Bei den letzten Worten lachte sie.
Kazim streckte den Arm aus und fuhr ihr verstohlen über den Handrücken. Eine kleine heimliche Intimität, die sofort ihr Herz entflammte und ihre Knie weich werden ließ. Die Luft um sie herum vibrierte. Dann schlenderten die beiden Jungen davon.
»Sieh sie dir nur an!« Huriya kam lachend aus der Menge auf sie zugehüpft. »Männer werden einfach nie erwachsen. Sogar dein Vater kann die Finger nicht von diesen albernen Schlägern lassen. Hast du gesehen, wie er vorhin mit Vikash Nooradin verschwunden ist?«
Huriya war größer als Ramita und hatte weiblichere Rundungen. Manche der älteren Jungs waren gemein zu ihr, weil sie eine Fremde war, eine Amteh, und einen kranken Vater hatte. Aber Kazim beschützte seine Schwester, und mit Kazim legte sich niemand zweimal an. Huriya war von oben bis unten in einen schwarzen Bekira gehüllt. »Warum müssen wir Amteh diese blöden heißen Zelte tragen, während ihr Omali-Frauen halb nackt herumlaufen könnt, ohne dass es jemanden stört?«, beschwerte sie sich. Zumindest die Kapuze hatte sie zurückgeschlagen, sodass man ihr Gesicht und die sinnlichen Lippen sehen konnte. Sie umarmte Ramita kurz, dann wandte sie sich dem Ansturm der Kunden zu. Es war Zeit, Geld zu verdienen.
Langsam, aber stetig arbeiteten sie sich durch den Tag. Als die Sonne am höchsten stand und der Markt etwas spärlicher besucht war, dösten sie ein wenig, um sich sofort wieder ans Geschäft zu machen, sobald der Tag sich dem Abend zuneigte. Die beiden Jungen waren immer noch nicht zurück, um ihnen beim Zusammenpacken zu helfen. Gut gelaunt schimpften sie über die beiden, verstauten Pfannen und Löffel und beluden den Karren mit der verbliebenen Ware. Der Boden war mit Abfall übersät, und jedes freie Mauerstück um den Marktplatz herum war nass von Urin. Klumpen zerkauter Pfefferblätter schmatzten unter ihren nackten Zehen, als sie den Leiterwagen durch die dunklen, kühler werdenden Straßen zogen. Kinder, die Fangen spielten, huschten umher, ein altes Kamel zog gemächlich einen großen Planwagen, dessen Fahrer auf der Pritsche ein Nickerchen hielt. Soldaten riefen ihnen unanständige Dinge nach, und Huriya gab ihnen unerschrocken in gleicher Münze zurück, während sich überall in den Gassen der Rauch der flackernden Fackeln verbreitete. Ramita überschlug im Kopf, wie viel sie eingenommen hatten: sechs Rupal ungefähr, dreimal so viel wie sonst. Die letzten Tage vor großen Festen waren stets gute Tage. Ihr Vater würde entzückt sein. Ob er mit Vikash gegangen war, um Geschenke zu kaufen? Er fand immer irgendeine Kleinigkeit auf dem Markt, um seiner Familie eine Freude zu machen, und keiner konnte handeln wie er.
Sie schoben sich durch die Menge, bis sie schließlich ein kleines Tor erreichten, das in einen Innenhof führte, der bis oben hin mit Gerümpel angefüllt war – Ramitas Vater war ein unverbesserlicher Hamsterer. Darüber erhob sich, schlank wie ein Turm, das Eigenheim der Ankesharans. Ganze drei Stockwerke hoch mit einem eigenen Keller darunter, aber kaum drei Schritt breit und mit Nachbarn zu beiden Seiten. Ispals Urgroßvater hatte es zuerst gemietet und dann gekauft. Stück für Stück war die Familie im Lauf der Jahre mit ihrem Heim verwachsen, hatten Böden, Wände und Dach ausgebessert, bis sie selbst ein Teil davon wurden und ihr Schweiß sich untrennbar mit Stein und Mörtel vermischte. Sobald sie verheiratet waren, würden Ramita und Kazim das zweite Schlafzimmer ganz oben bekommen, bis das nächste Stockwerk fertig war. Das würde ihnen dann allein gehören. Sie würden ihr gesamtes Leben in diesem Haus verbringen, wie schon Ramitas Vater und Großvater es getan hatten. Im Moment teilte sie sich das Schlafzimmer noch mit Huriya, die Jungen schliefen auf dem Dach. Für Privatsphäre war hier kein Platz.
Etwas war seltsam heute Abend. Normalerweise saß ihre Mutter um diese Zeit mit den Kindern in der Küche beim Essen und schimpfte, während Ispal mit
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