Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Raz bei einer Pfeife und einem Gläschen Arrak im Innenhof saß. Doch von den Erwachsenen war keiner zu sehen, und die Kinder rannten wie wild umher. Erstaunt blickten die beiden jungen Frauen einander an. Ramita ging in die Küche und versuchte, die Kleinen zur Räson zu bringen, während Huriya das Geschirr vom Karren lud, um es abzuwaschen. Schließlich kümmerte sie sich um das Essen für die Kinder, und Ramita ging mit einem Eimer die Gasse hinunter zum Brunnen, um Wasser zu holen.
Als sie zurückkam, war zumindest äußerlich die Ruhe wiederhergestellt. Mit gutem Zureden hatte Huriya die Mädchen zum Aufräumen gebracht, und die Jungen beschäftigten sich mit den Schieferplatten, die sie heute in der Schule beschrieben hatten. Laut rezitierten sie die Verse aus dem heiligen Buch der Omali, in denen es um Respekt gegenüber den Eltern ging.
Bloß, wo sind sie, unsere Eltern. Vielleicht oben? Und wo ist Raz? Wo sind Jai und Kazim? Was ist heute hier nur los? Ramita stieg die schmale Treppe hinauf und klopfte leise an die Schlafzimmertür ihrer Eltern. »Vater? Mutter? Seid ihr zu Hause?« Sie glaubte, ihre Mutter weinen zu hören, und spürte einen Knoten im Hals. »Mutter? Was ist passiert?«
Ispal öffnete die Tür und schloss seine Tochter in seine kräftigen, weichen Arme.
Ramita sah ihn an und blickte dann zu ihrer Mutter hinüber, die weinend auf dem Bett lag. »Vater?«
Er drückte sie noch einmal an sich, dann fasste er sie an den Schultern und musterte sie unsicher. Seine Lippen bewegten sich, als würde er stumm mit sich selbst sprechen. Als er schließlich sagte: »Besser, du kommst erst einmal herein, Tochter«, überfiel Ramita nackte Angst.
Eine Stunde später taumelte sie wie benommen aus dem Schlafzimmer und brach über ihrem Bett zusammen, schreiend vor Schmerz und Trauer. Dies war das Zimmer, das sie sich mit Kazim hätte teilen sollen, aber dazu würde es nun nicht mehr kommen. Huriya brüllte auf Ramitas Vater ein in dem Versuch, ihn umzustimmen, und die Nachbarn, aufgescheucht von all dem Lärm, schrien zurück. Irgendwann hatte Ispal aufgehört, ihr die Gründe zu erklären, und sie einfach nur so fest umarmt, dass Ramita kaum noch Luft bekommen hatte.
Warum tat er ihr das an? War sie nicht immer eine gute Tochter gewesen? War Kazim ihr nicht schon seit Langem versprochen? Versprochen! Und jetzt genommen … Jeden Traum, den sie gemeinsam unterm Sternenhimmel geträumt hatten, hatte er ihnen genommen, und wofür? Hatten sie nicht so viel Geld, wie sie sich nur wünschen konnten? Welches Glück sollte all das Gold ihnen erkaufen? So viel Gold, mehr als sie überhaupt begreifen konnte … Omali-Mädchen sollten eine Aussteuer mit in die Ehe bringen, nicht mit einer gekauft werden. Mit einem alten Mann verheiratet zu werden, dessen Namen ihr Vater nicht einmal nennen wollte …
Sie ließ sich vom Bett gleiten und sank auf die Knie, bombardierte die Götter mit Fragen, schluchzte und flüsterte abwechselnd mit zitternder Stimme. »Die Götter sind in der Stille«, sagte ihr Guru immer. Doch wo waren sie jetzt, diese Götter? Denke ich immer nur an mein eigenes Glück? , fragte sie sich. Würde sie sich genauso elend fühlen, wenn Ispal ihr gesagt hätte, Huriya würde zwangsverheiratet, damit sie alle reich wurden? War sie deshalb eine Heuchlerin? Eine pflichtbewusste Tochter hatte zum Wohl der Familie zu heiraten, nicht zu ihrem eigenen.
Aber sie hatte von so viel mehr geträumt, von einer Liebe, die alle Zeiten überdauern würde. Ihr Vater hatte es versprochen.
Ramita hörte, wie Kazim und Jai spät nach der Abendessenszeit nach Hause kamen. Sie lag auf ihrer Pritsche, versuchte, Huriyas leises Schnarchen auszublenden und ihre Gedanken zu betäuben. Sie wünschte, sie hätte eine Wasserpfeife voll Haschisch, um die Welt darin zu ertränken. Da hörte sie, wie die Eingangstür unten aufging. Leises Gelächter ertönte.
Ispal erwartete die beiden schon, und es dauerte nicht lange, da wurde es ein weiteres Mal laut. Wenn Kazim wütend war, war er nicht zu überhören. Er ließ seinen Gefühlen freien Lauf, und es war ihm egal, wer es mitbekam. Ramita sah die funkelnden Augen und den schreienden Mund förmlich vor sich. Kazim war schon immer aufbrausend gewesen, aber normalerweise beruhigte er sich ebenso schnell wieder. Doch so wie heute hatte sie ihn noch nie erlebt. Er tobte und wütete, fluchte und warf mit Gegenständen um sich. Männer aus der Nachbarschaft kamen herbeigeeilt, um
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