Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Götter es von ihr verlangten. Sobald der alte Mann tot war, würde sie zu Kazim zurückkehren. Es würde nicht lange dauern. Sie würde es ertragen.
Die gesamte Nachbarschaft würde heimlich zusehen, dessen war sie absolut sicher. Ispal hatte niemandem den Namen ihres Freiers genannt, und die Gerüchte schossen nur so aus dem Boden. Es hatte eine Rauferei gegeben zwischen den Ankesharans und den Makanis, das wussten alle, und jetzt hatten sie die Verlobung gelöst, die die beiden Familien auf ewig hätte vereinen sollen. Ramitas neuer Mann würde zur Mittagszeit kommen, und jede Frau, die nicht von ihrem Fenster aus einen Blick auf den Innenhof hatte, würde irgendeine Entschuldigung finden, um sich genau zu dieser Zeit draußen auf der Gasse zu tummeln. Es wurde wie wild spekuliert, entweder laut oder hinter vorgehaltener Hand. Hatte ein Prinz vom Mogulnhof Ramita auf dem Markt gesehen und sich in sie verliebt? Oder gab es einen anderen Jungen? Jeder hatte seine Theorie darüber, nur Ispal, Tanuva und Ramita wussten Bescheid. Das Geheimnis brannte in ihrem Innern, auch wenn der Name des Mannes eigentlich kaum mehr war als eine verblasste Legende, ein Märchen, an das kaum noch jemand wirklich glaubte.
Als Jai einen Soldaten des Raja hereinließ, der nachsehen wollte, was hier los war, wurde aus dem Gemurmel auf der Gasse aufgeregtes Geschnatter. Ramita sah, wie ihr Vater ihn mit eifrigen Worten und etwas Geld besänftigte, dann war er wieder weg. Ispal wirkte erleichtert, ihn loszusein. Die ganze Zeit über rebellierte Ramitas Magen – immer stärker, bis ihr schließlich nichts anderes mehr übrig blieb, als zum Schmutzwasserbottich zu laufen und ihr Frühstück wieder hochzuwürgen. Ramita konnte sich lebhaft vorstellen, was die Nachbarn sich dabei dachten: Ah, hat sie doch tatsächlich schon ihre Jungfräulichkeit verloren, die kleine Schlampe. Ich hab ja immer gesagt, mit der würde es kein gutes Ende nehmen . Es war alles so unglaublich ungerecht. Kazim, mein Prinz, wo bist du? Rette mich aus all diesem Unglück!
Als die Sonne über die Häuserdächer geklettert war und ihre Strahlen bis in den Innenhof vordrangen, hörten sie Stiefel die Gasse heraufkommen. Das Gemurmel draußen wurde lauter, doch als die Schritte vor dem Haus der Ankesharans haltmachten, verstummte es abrupt. Ispal erhob sich mit aschfahlem Gesicht und bedeutete Tanuva, die Kinder ruhig zu halten, während Jai sich abmühte, das Tor aufzustemmen. Wie gelähmt hielt Ramita sich an ihrem Vater fest, noch immer den Geschmack des Erbrochenen im Mund.
Ein Riese schritt durch das kleine Tor. Er maß bestimmt vier Ellen und war so breit wie eine Scheune. Unter seinem blauen Umhang trug er Helm und Rüstung. Das Gesicht war grimmig und vernarbt, aber unverkennbar weiß. Ein Ferang! Ramita spürte, wie sie vor Angst zitterte. Sie hatte noch nie zuvor einen weißen Mann gesehen, und dieser hier sah so … seltsam aus, hässlich, irgendwie nicht wie ein Mensch.
Mit funkelnden Augen inspizierte er den vollgestopften Innenhof, beäugte die Gaffer an den Fenstern, und Ramita sah das Unbehagen in seinem fremdartigen Gesicht. Er war wie ein Wachsoldat, der hinter jeder Ecke einen Hinterhalt vermutete. Er winkte vier weitere Soldaten herein, dann Ispals Freund Vikash Nooradin. Auf ihn folgte eine Gestalt in einer langen Robe, ebenfalls sehr groß, aber gebeugt und dürr wir eine Zaunlatte.
Ramitas Hände zitterten, der Schweiß lief in Strömen an ihr herab. Ist er das? Das Gewand des Mannes war sandfarben, sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Sand und Weiß waren Farben für eine Beerdigung, aber das hier war eine Verlobung! Wollte er sie beleidigen, oder war es einfach nur Ignoranz? Er stützte sich auf einen mit poliertem Silber beschlagenen Stock aus Ebenholz und einer Spitze aus Metall. War das sein Zauberstab? War er wirklich ein Jadugara, ein Hexer? War er wirklich der Antonin Meiros aus den Legenden? Die Sekunden verstrichen, und ihre Angst wuchs mit jedem Augenblick.
Sie spürte, wie die Blicke der Nachbarn ihr folgten, als Ispal sie zu ihrem Bräutigam führte. Leise Worte wurden gewechselt, und falls der alte Mann irgendetwas zu ihr sagte, hörte sie es nicht. Eine runzlige Hand zog ihr den Schleier vom Gesicht und hob ihr Kinn an.
Ramita blickte auf und sah über sich die Kapuze, in deren Schatten ein roter Edelstein funkelte wie das Auge eines Dämons. Sie schnappte nach Luft, wollte wegrennen und wäre beinahe gestolpert, aber
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