Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Autorität. »Warte hier, mein Freund«, sagte er und kam schon bald mit einer Schale Daal, einem Chapati-Fladen und einer Tasse kaltem Chai zurück. Um ein Haar wäre Kazim in Tränen ausgebrochen.
»Warum bist du hier, Kazim? Welches Unglück ist dir widerfahren?«, fragte Haroun, ohne zu drängen, während Kazim sein Essen hinunterschlang.
Nachdem der schlimmste Hunger gestillt war, wurde Kazim etwas vorsichtiger. »Verzeih, Bruder, aber woher weißt du meinen Namen? Ich kenne dich nicht.« Doch jetzt, da er dessen Gesicht genauer betrachtete, fiel ihm ein, dass er ihn schon einmal gesehen hatte. Haroun hatte ab und zu beim Kalikiti zugeschaut und war oft am Dom-al’Ahm gewesen.
»Ich bin ein Sohn Ahms und studiere das heilige Buch. Mein oberster Wunsch ist, Gott zu dienen.« Er zuckte mit den Schultern. »Mehr gibt es nicht zu sagen. Es ist die Wahrheit und die ganze Wahrheit. Ich habe deine Verzweiflung gesehen, von der Schande gehört, die dir widerfahren ist, und das hat mich traurig gemacht. Ich habe nach dir gesucht.«
»Warum?«
»Ist der Wunsch, eine gute Tat zu vollbringen, nicht Grund genug?«
Nicht in dieser Welt , dachte Kazim misstrauisch.
Haroun lächelte. »Wir setzen große Hoffnungen auf dich in dieser Gemeinde, Kazim. Du bist ein Mann von großer Begabung, eine Seele, die hell erstrahlt unter den Menschen. Ich wollte dir sagen, dass Ahm dich liebt. Ich möchte dich nach Hause bringen.«
»Ich habe kein Zuhause mehr.«
»Ich bin hier, um dir den Weg dorthin zu zeigen.« Haroun deutete himmelwärts. »Erzähl mir, Freund, was dir angetan wurde.«
Kazim spielte mit dem Gedanken, gar nichts zu sagen. Eigentlich sollte er jetzt bei seinem Vater und seiner Schwester sein. Ob sie immer noch in Ispals Haus wohnten, oder standen auch sie jetzt auf der Straße? Kazim, selbstsüchtig, wie er war, hatte nicht einen Gedanken an sie verschwendet in seiner Wut und Trauer. Er sah Haroun an und spürte ein überwältigendes Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden. Darüber zu sprechen wird mir guttun …
Es war so ein wunderbarer Tag gewesen. Sie hatten ein Kalikitispiel gegen Sanjay und seine Jungs vom Koshi Vihar organisiert, von dem kleineren Markt eine halbe Meile südlich. Sanjay war in Kazims Alter, und er war der »Raja« von Koshi Vihar, so wie Kazim der Anführer der Jugendlichen in Aruna Nagar war. Seit Jahren standen sie miteinander im Wettstreit, waren Feinde, Rivalen und beinahe Freunde gewesen, aber nur beinahe. Sanjay hatte sie zu dem Spiel herausgefordert, weil er wusste, dass die Amteh einen ganzen Monat lang tagsüber gefastet hatten und entsprechend geschwächt waren. Kazim hatte sich vor Tagesanbruch noch einmal den Magen vollgeschlagen, als gäbe es danach nie wieder etwas zu essen, und seine Mannschaft hatte einen triumphalen Sieg davongetragen. Danach hatte es natürlich eine Rauferei gegeben, aber wie jedes Mal hatten sie sich schnell wieder versöhnt. Dann waren sie in eine Dhaba gegangen, in der es Bier gab – das Lieblingsimportgut von den Barbaren aus Rondelmar –, und viel gemeinsam gelacht.
Als sie schließlich nach Hause gingen, schwebten Kazim und Jai wie auf einer Wolke, so berauscht waren sie vom Alkohol. Doch Ispal stand bereits hinter der Tür und erwartete sie, was er sonst nie tat. Sie waren erwachsen, sie konnten tun und lassen, was sie wollten, sagte er immer. Doch dieses Mal hatte er auf sie gewartet, um Kazim die Nachricht zu überbringen, die sein Leben zerstören würde.
Ramita wird einen anderen heiraten .
Wir werden so reich sein, wie wir es uns niemals erträumt hätten.
Er ist ein alter Mann, er wird nicht mehr lange leben.
Nein, ich kann nicht sagen, wer er ist.
Dein Vater versteht es.
Der Zorn hatte ihn wie tollwütig gemacht. Kazim erinnerte sich, wie er Ispal, den Mann, dem er so viel verdankte, an der Kehle gepackt und ihn geschüttelt hatte wie einen Hund. Jai hatte er ins Gesicht geschlagen, als er versuchte dazwischenzugehen. Er erinnerte sich, wie er nach Ramita gerufen hatte, immer wieder, aber es waren nur Männer gekommen, Dutzende, die ihn blutig geschlagen und ihm das Messer aus der Hand gerissen hatten. Getreten und mit Fäusten traktiert hatten sie ihn und nach draußen geschleift, wo er nicht mehr als zwei Gassen entfernt bewusstlos zusammengebrochen war. In einer Pfütze kalter Kuhpisse war er am nächsten Morgen aufgewacht, blutverschmiert, dreckig und zerschlagen.
Wie sollte er da jemals wieder nach Hause
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