Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
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»Man kann diesen Omali einfach nicht trauen«, sagte Haroun. »Sie haben keinen Glauben. Sie verstehen nur die Sprache des Geldes. Man kann ihnen nicht trauen.«
»Ramita ist so wunderschön, schöner als selbst der Morgen«, erwiderte Kazim. »Sie liebt mich. Sie wartet auf mich.« Er machte Anstalten aufzustehen. »Ich muss zu ihr.«
Haroun zog ihn zurück auf seinen Stuhl. »Nein. Das ist zu gefährlich. Du wärst dort nicht willkommen. Sie werden Angst haben, dass du alles zerstörst.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Weißt du, wer dieser Ferang ist?«
Kazim schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne seinen Namen nicht. Niemand wollte mir irgendwas sagen.«
Haroun sah enttäuscht aus, und Kazim senkte niedergeschlagen den Blick. Er hatte keine Lust, noch weiterzureden. Er wollte Haroun nichts davon erzählen, wie er die drei Tage des Eijeedfestes an den schlimmsten Orten der ganzen Stadt verbracht hatte, für Schnaps, Haschisch und Huren sein letztes Geld ausgegeben hatte. Es war zu beschämend.
Doch Haroun wusste es auch so. »Komm, Bruder«, sagte er sanft. »Lass uns gemeinsam beten.«
Draußen riefen die Gottessänger die Gläubigen zum Gebet. Kazim, dessen Körper zwar wieder gestärkt, aber dessen Seele immer noch leer war, ließ sich von seinem neuen Freund an einen Ort bringen, wo er Buße tun und beten konnte, Ahm darum bitten, ihm seine Ramita zurückzugeben.
Oder ihm die Möglichkeit zu geben, Rache zu nehmen.
Ein Schriftgelehrter las aus dem Kalistham, ein Kapitel mit dem Titel »Worte aus Feuer und Blut«. Ein Prophet aus Gatioch hatte es einst geschrieben. Gatioch war ein Land, in dem den Menschen von Geburt an bedingungsloser Glaube und Gehorsam eingetrichtert wurden. Es waren flammende Verse, seit jeher wurden sie herangezogen, um Kriege zu rechtfertigen, egal gegen wen. Die Große Zusammenkunft hatte gesprochen, und die roten Wände des Doms hallten wider vom Ruf zu den Waffen. Eine Fehde war über die Ferang verhängt worden. Kazim fühlte sich wieder besser, denn er war nicht mehr allein. Er hatte jetzt Brüder, die genauso wütend auf die Welt waren wie er, auch wenn ihr Zorn erhabenere Gründe zu haben schien als eine geraubte Verlobte.
»Was sagen dir die Worte, die du soeben gehört hast?«, fragte Haroun, als sie hinterher in einer kleinen Dhaba im Amteh-Suk Geshanti saßen. Sie tranken dicken schwarzen Keshi-Kaffee und beobachteten den unaufhaltsamen Strom der Leute auf den Straßen. Die Männer hier trugen alle Weiß, die Frauen schwarze Bekiras.
»Tod den Ferang!«, bellte er und hob das kleine Tässchen. Er hatte noch nie wirklich über die Ferang nachgedacht. Sein Vater stammte aus Kesh, wären die Ferang nicht gewesen, wäre er jetzt immer noch dort, aber nun war Baranasi ihr Zuhause. Huriya betete nicht einmal mehr zu Ahm und benahm sich ganz wie ein Omali-Mädchen, trug Saris, einen Schönheitsfleck auf der Stirn und tanzte lakhische Tänze.
Haroun schüttelte den Kopf. »Hörst du überhaupt, was du da sagst, Kazim! Du sagst ›Tod den Ferang‹, doch in Wahrheit denkst du nur an dein Mädchen. Begreifst du nicht, dass dein Unglück Teil einer noch viel größeren Ungerechtigkeit ist? Du bist ein junger Mann voll Tatkraft und wilder Entschlossenheit. Verschwende diese Gaben nicht in deiner Verzweiflung. Ahm ruft dich, er wartet, dass du die Ohren spitzt und ihm zuhörst. Ahm will dich.«
»Warum mich?«
»Ich beobachte dich schon seit Langem. Du bist der geborene Anführer, die jungen Männer folgen dir. Du bist hervorragend in allem, mit dem sie sich gerne die Zeit vertreiben: Du kannst rennen wie der Wind und ringen wie ein Python. Du bist begnadet, Kazim! Würdest du diese kindischen Spielereien sein lassen und dich einer ernsthaften Aufgabe widmen, würden auch die anderen nicht lange zögern. Du suchst das Licht, und dieses Licht ist Ahm, du musst nur dein Herz für ihn öffnen.«
Kazim hatte solche oder ähnliche Worte schon öfter von Schriftgelehrten gehört, und jedes Mal hatte er sich gesagt: »Mag sein, aber ich werde ein Omali-Mädchen heiraten und Hunderte von Kindern mit ihr haben.« Und das war immer noch sein Traum. Mehr als ein Traum, es war seine Bestimmung. Eine Wahrsagerin, die ausgesehen hatte, als sei sie älter als die Zeit selbst, hatte in seine Zukunft geblickt und ihm gesagt, es sei seine Bestimmung, Ramita zu heiraten. Wie konnte es also sein, dass sie ihm genommen wurde? Er würde zu ihrer Hochzeit gehen, genau
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