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Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Titel: Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Hair
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Wieder umarmte sie Kazim, und diesmal erdrückte sie ihn beinahe. »Er liegt im Sterben! Du musst etwas tun!«
    Kazim hielt seine Schwester fest. Sie schluchzte hemmungslos, und er ließ sie gewähren. Schließlich führte sie ihn zu einer Pritsche. Raz schlief, den Helm, den er in Hebusal getragen hatte, mit beiden Armen an die Brust gepresst. Er war rund mit einer Spitze auf dem Scheitel, auf der Stirn prangte das Symbol eines Schakals. Ein Kettenpanzer schützte die Wangen. »Wenn du groß genug bist, dass er dir passt, gehört er dir«, hatte Raz immer gesagt, als Kazim noch ein Kind gewesen war. Dann hatte er ihn jahrelang nicht mehr hervorgeholt.
    »Huriya, draußen wartet ein Schriftschüler, sein Name ist Haroun. Sag ihm, ich habe meinen Vater gefunden. Und sag ihm, ich werde ihn suchen, sobald ich getan habe, was zu tun ist.«
    Huriya warf ihm einen eigenartigen Blick zu, nickte aber. Kurz danach kam sie zurück. Sie fand Kazim, wie er neben ihrem Vater kniete.
    Er streichelte sein Gesicht, Tränen liefen ihm über die Wangen. »Hast du ihn gefunden?«, fragte er, ohne aufzublicken.
    »Ja. Er hat mich gefragt, ob ich weiß, wer Ramitas Bräutigam ist«, erwiderte sie verärgert. »Das geht ihn nichts an.«
    »Er ist mein Freund«, gab Kazim zurück. »Was sagen sie über Vaters Zustand?«
    Huriya setzte sich im Schneidersitz auf den schmutzigen Boden, ohne auf ihren ohnehin verdreckten Salwar zu achten. »Sie sagen, er hat sich ein Fieber geholt, weil er zu lange im kalten Wasser gelegen hat. Seine Lunge muss ständig entwässert werden. Sie drehen ihn regelmäßig auf den Bauch, dann klopfen sie ihm so lange auf den Rücken, bis er Schleim und Blut spuckt. Ich muss dann alles aufwischen. Die Geschwüre auf seinem Rücken haben sich wieder entzündet.« Huriyas Augen wurden feucht. »Ich glaube, es geht zu Ende mit ihm.«
    Kazim dachte dasselbe. »Ich werde mich um dich kümmern«, sagte er instinktiv.
    »So wie du dich die letzten drei Tage um mich gekümmert hast? Vielen Dank, großer Bruder.«
    Kazim zuckte zusammen. Geschieht mir recht . »Ich werde mich um dich kümmern, ich verspreche es!«
    »Ha! Ich kann mich schon selbst um mich kümmern.« Huriya streckte das Kinn vor. »Ich werde fragen, ob ich Ramita nach Norden begleiten darf. Ich brauche deinen Schutz nicht!« Sie erdolchte ihn förmlich mit ihren Blicken. »Ispal war jeden Tag hier und hat sich um Vater gekümmert. Genauso wie Jai und Ramita und Tanuva. Alle waren da, nur du nicht.«
    Von brennender Scham überwältigt, begrub Kazim das Gesicht in den Händen. Doch alles, was er denken konnte, war: Wenn ich hierbleibe, vielleicht sehe ich dann Ramita.
    Aber nicht einmal das funktionierte. Ramita kam nicht, bestimmt weil Huriya ihr gesagt hatte, dass er da war. Kazim sah nur Jai und Ispal, aber er brachte es nicht über sich, ihnen unter die Augen zu treten. Er durfte neben der Pritsche seines Vaters auf dem Boden schlafen, aber die Priesterheiler weckten ihn immer wieder auf, damit er beim Entwässern der Lunge und Wechseln der Verbände half. Die Geschwüre eiterten und stanken entsetzlich. Die ganze Welt stank. Wachen und Schlafen wurden eins. Sein Vater stöhnte oft, erkannte selten, wer mit ihm sprach, und rief immer wieder etwas von einer Flammenfrau, bis die Heiler ihn schließlich ruhigstellten. Auch nach Ispal hatte er oft gerufen. Kazim kam sich vor, als würde er gefoltert, ohne dass seine Antworten seine Peiniger je zufriedenstellen könnten.
    Das Ende war wie ein Segen. Sein Vater wachte auf und rief noch einmal nach Ispal, dann packte ihn ein Krampf, und er schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. Noch bevor sie ihn umdrehen konnten, zuckte er ein letztes Mal, dann rührte er sich nicht mehr. Kazim hielt ihn fest, weinte und schluchzte, wie er es nicht mehr getan hatte, seit er ein kleines Kind gewesen war in den Armen seiner längst verstorbenen Mutter.
    Als er aufwachte, fand er sich in einem Meer aus dunklen Gesichtern wieder. Sein Schlaf war zu oft unterbrochen worden, um auch nur das kleinste bisschen Kraft oder Erholung zu spenden. Lakh-Männer und -Frauen schauten auf ihn herab, dann wandten sie den Blick ab.
    Schließlich kamen die Priester. Sie wollten, dass er die Leiche entfernte, weil sie die Pritsche brauchten. Einer fragte nach Geld für die Träger, die Raz’ Leiche zu den Begräbnisfeuerstellen bringen würden. Aber Raz war Amteh und musste beerdigt werden.
    Kazim beschloss, seinen Vater selbst zu tragen. Ohne

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