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Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Titel: Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Hair
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das würde er tun! Er würde ihr in die Augen sehen und sie fragen, ob sie ihn liebte, und sie würde Ja sagen. Und dann würde er diesen Fremden zertreten und sich die Frau nehmen, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte. Die Liebe würde siegen. Es konnte gar nicht anders sein.
    Haroun schüttelte seufzend den Kopf. »Bruder, du musst dich der Fehde anschließen. Du musst die Schwertkunst erlernen. Du musst uns helfen, die jungen Männer vom Krieg zu überzeugen. Sag, dass du dich uns anschließt, Bruder.«
    Kazim blickte seinem Gegenüber fest in die Augen. Ja, das sollte ich, aber meine Bestimmung liegt bei Ramita … Er ließ den Kopf hängen. »Gib mir Zeit, darüber nachzudenken. Meine Schwester, mein Vater … Ich weiß nicht einmal, wo sie sind. Ich habe meine Pflichten ihnen gegenüber vernachlässigt. Und Ramita, sie liebt mich immer noch, ich weiß es!«
    Harouns Miene verdüsterte sich, aber schließlich zuckte er mit den Schultern. »Dann lass mich dir helfen, mein Freund. Wenn alles kommt, wie du sagst – schön und gut. Falls nicht … Wirst du dich uns dann anschließen, Bruder?«
    Kazim schluckte. Wenn das passiert, wo sollte ich denn sonst noch hin?
    Kazim und Haroun suchten die Ghats, die Treppen am Flussufer, nach Raz Makani ab. In Baranasi war der Imuna der Quell allen Lebens, und alles Leben endete auch dort. Die Stadt stand am Westufer des breiten, seichten Flusses, der das Land von Nord nach Süd durchquerte, das Wasser trüb von den vielen Zwecken, denen es weiter flussaufwärts bereits gedient hatte. Am Morgen kam beinahe die ganze Stadt an sein Ufer, um zu beten, sich zu waschen und zu läutern für den kommenden Tag. Die reicheren Bewohner fuhren mit kleinen lederbezogenen Kanus hinaus aufs Wasser, um abseits der Massen des gewöhnlichen Fußvolks den Sonnenaufgang zu beobachten. Der Prinz von Baranasi hatte eine Barke, auf der er an Feiertagen für alle gut sichtbar die heiligen Rituale ausführte, obwohl er selbst Amteh war. Er tat es, um die Bewohner – hauptsächlich Omali – zu beschwichtigen.
    Nach Sonnenaufgang wurden die Betenden allmählich von den Waschfrauen verdrängt, die Kleider einweichten, um sie danach auf den Steinplatten sauber zu reiben und in der Sonne zum Trocknen auszulegen. Andere sammelten Kuhdung und rollten ihn zu Kugeln, die sie als Brennstoff verkauften. Den ganzen Tag lang kamen und gingen die Menschen, während das Geläut der schweren Tempelglocken übers Wasser hallte. Weiter flussabwärts, am südlichen Ende der Stadt, brannten die Begräbnisfeuer. Dort wurde die Asche der Toten dem Fluss überantwortet, damit er sie ins Meer trug.
    Die Sonne brannte immer heißer. Gemeinsam mit Haroun suchte Kazim Raz’ Lieblingsplätze ab. Niemand hatte ihn gesehen, schon seit Beginn des Eijeedfestes nicht mehr, und schließlich war es Haroun, der auf die Idee kam, zum Devanshri-Tempel zu gehen, wo die Priesterheiler ein Krankenhaus für die Armen eingerichtet hatten. Er wartete draußen, während Kazim in den Tempel eintrat.
    Kazim war anderen Glaubens, senkte aber aus Respekt gegenüber den religiösen Gefühlen der Omali den Kopf, als er an der lächelnden Statue des Heilergottes vorbeiging. Aus dem Krankenraum schlug ihm das leise Stöhnen der Patienten entgegen. Er nahm einen letzten Atemzug sauberer Luft, zog sich seinen Schal über den Mund und betrat das Hospital.
    Es roch nach Räucherwerk, das die giftigen Ausdünstungen und Dämonen vertrieb. Orangefarben gewandete Priester und Priesterinnen kamen und gingen, junge Tempeldiener brachten Wasser vom Imuna, um die Kranken zu waschen. Überall lagen Sieche und Verletzte, viele davon alt, manche würden bald sterben. Knorrige Hände reckten sich nach Kazim, als er an den Pritschen vorbeiging.
    Zwei Männer trugen eine alte Frau auf den Schultern, steif wie ein Brett, die offenen Augen starr aufs Jenseits gerichtet.
    Kazim drückte sich gegen die Wand, um sie vorbeizulassen. Ihm wurde übel, und er wandte sich zum Gehen.
    »Kazim! Kazim!« Huriya rannte auf ihn zu und schloss ihn in eine kurze Umarmung. Dann versetzte sie ihm eine Ohrfeige.
    Kazim starrte sie fassungslos an. Seine Wange schmerzte, aber er war wie gelähmt.
    »Wo warst du die ganze Zeit, du nichtsnutziger Scheißkerl?!«, schrie sie ihn an. »Ich habe Vater am anderen Flussufer gefunden. Er hat versucht, sich zu ertränken. Das Wasser war nicht tief genug, und er war so benebelt vom Opium, dass er nicht auf die Idee kam, sich hinzulegen.«

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