Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
gewesen war – und das waren viele, denn außer Hochzeiten gab es nicht viel zu feiern hier in Baranasi. Ramita wusste nicht, wie viel, aber sie wusste, es würde eine Menge Geld den Besitzer wechseln. Die Familie würde in einen anderen Stand erhoben, die ganze Nachbarschaft würde zusammenkommen. In ihren finstersten Momenten argwöhnte Ramita, dass sie nur wegen des Goldes kamen, aber dann besann sie sich. Die Menschen hier kamen zu allen Hochzeiten zusammen, genauso wenn jemand Hilfe brauchte. Zualleroberst würden sie kommen, weil sie alle eine Familie waren.
Jai fuhr mit dem Karren mit den Geschenken für den Bräutigam davon, gespendet von Freunden der Braut. Größtenteils handelte es sich um Essen, vor allem Fisch, der der Fruchtbarkeit zuträglich war. Ramita versuchte, nicht daran zu denken, aber all das Getue um Fruchtbarkeitssymbole machte sie nervös. Ungeachtet dessen verlangte die Tradition, dass sie den Karren beim Hinausfahren segnete, und sie tat es. Der durchaus makabre Hintergrund dabei war: Die Fische aus dem Imuna hatten so viele Gräten, dass eine Hochzeit, die das Missfallen der Götter erregte, gar nicht erst stattfinden würde, weil der Bräutigam zuvor an den Gräten erstickte. Mehr als einmal war es so geschehen.
Um die Mittagszeit kam der Karren zurück. Jai saß neben dem Fahrer, all seine Freunde hatten sich irgendwie daneben, darüber oder darunter dazugequetscht. Der groß gewachsene rondelmarische Hauptmann Jos Lem und drei seiner Soldaten gingen mit misstrauischer Miene voraus. Die Pritsche selbst war mit einem schmutzig braunen Leinentuch verhüllt. In jedem Fenster und über jedem Zaun erschienen Gesichter, als der Wagen in den Innenhof einbog. Jai und dessen Freunde brachten die Geschenke von Ramitas Verlobtem nach oben. Sie würden erst am Morgen des Hochzeitstags geöffnet. Dann kamen alle bei einer Tasse Chai zusammen, und Jai erzählte der Familie unter viel Gelächter, wie der Ferang auf die ganze Wagenladung voll Fisch aus dem Fluss reagiert hatte. »Ganz verstört war er. Vikash musste ihm alles erklären. Ich frage mich, ob sie überhaupt heiraten, dort, wo er herkommt!«
Bei Ramitas letzter Jungfernmahlzeit waren alle da, Schwestern und Cousinen und Freundinnen. Aber alles war überschattet von dem Geheimnis um die Identität ihres Bräutigams, und sie wussten nicht recht, ob sie sich mit Ramita freuen oder mit ihr trauern sollten. So wurde aus dem Abend, der ein Freudenfest hätte sein sollen, eine eher angespannte Angelegenheit. Ramita fühlte sich schon, als gehöre sie gar nicht mehr dazu.
Lange nach dem Abschiedsfest klopfte Ispal leise an Ramitas Tür.
Sie und Huriya waren noch wach, Arm in Arm saßen sie am Fenster und schauten den riesigen Mond an. Er war jetzt zu drei Vierteln voll und füllte den gesamten nordöstlichen Himmel aus. Sein Antlitz sah aus wie gemeißelt, das Licht, das er spendete, war kalt und hart.
Ispal setzte sich ans Fußende von Ramitas Bett. »Ich möchte Euch beiden etwas erzählen«, sagte er leise. »Darüber, was ich dort oben im Norden gesehen habe, über meinen Freund Raz und wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
Das hast du schon hundertmal erzählt , dachte Ramita, aber sie nickte stumm.
Ispal blickte zum Mond, dann schloss er die Augen. Zuerst klang seine Stimme noch unsicher, dann wurde sie allmählich voller, und schließlich sprach er wie ein Gelehrter, der aus einem Epos rezitierte. »Meine Töchter, ich habe euch schon öfter von meiner Reise nach Norden erzählt. Dreiundzwanzig Jahre liegt sie jetzt zurück. Damals beschloss ich, mich dem Händlerstrom anzuschließen, der alle zwölf Jahre nach Hebusal aufbrach, um dort mit den Rondelmarern Geschäfte zu machen. Ich hatte eine ganze Wagenladung voll Seidenstoffe aus Baranasi, meine ganzen Ersparnisse hatte ich dafür ausgegeben. Die Reise dauerte Monate, und sie allein liefert schon Stoff genug für eine eigene Erzählung. Irgendwann erreichte ich Hebusal. Die Stadt war komplett überfüllt, also schlug ich mein Lager außerhalb der Mauern auf. Alle waren ganz aufgeregt und bejubelten die Brückenbauer. Laut träumten wir von dem Vermögen, das wir verdienen würden an den törichten Weißen mit Börsen voller Gold. Aber es waren riskante Zeiten. Nicht allen Keshi waren die Ferang willkommen, und es hatte bereits Zwischenfälle gegeben. Beide Seiten hatten Schuld auf sich geladen, weshalb diesmal viele Soldaten nach Hebusal entsandt worden waren. Ein Trupp
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