Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
›Ist das etwa ein Sport für euch?!‹, brüllte Raz rasend vor Zorn und fuchtelte mit seinem Krummsäbel. Die Bogenschützen konnten kaum danebenschießen, so vollgestopft waren die Straßen mit Menschen. Der Lärm wurde immer lauter, wir rannten weiter, immer weiter, dann kam der Flüchtlingsstrom mit einem plötzlichen Ruck zum Stehen. Wie ein Dämon fuhr das Entsetzen in uns: Die Stadttore waren geschlossen worden. Hinter mir erhob sich panisches Geschrei, weil eins der Skiffs aus der aufgehenden Sonne direkt auf unser Spalier zukam. Am Bug stand eine einzelne Gestalt, von hinten von der Sonne angestrahlt, die Arme erhoben. Wir waren eingekeilt zwischen mehrstöckigen Gebäuden, standen Wange an Wange. Als das Skiff uns erreicht hatte, machte der Magus am Bug irgendetwas, das den Boden erzittern ließ, sodass die Häuser auf beiden Seiten über unseren Köpfen einstürzten. Der Magus war eine Frau, sie trug eine rote Robe, und ihr Mund war weit geöffnet, als würde auch sie schreien vor Entsetzen über sich selbst. Ich sah, wie Haus um Haus hinter ihr einstürzte. Wie Würfel auf einem Spielbrett fielen Ziegel und Mauersteine auf die Flüchtenden, erschlugen und zerquetschten sie. Wir wurden einfach mitgerissen von der Menge, jeder versuchte nur panisch, dieser Göttin der Zerstörung zu entfliehen. Menschen stolperten und wurden zu Tode getrampelt. Ich hielt mich an Falima fest, während wir über die Leichen kletterten und immer näher auf die geschlossenen Stadttore und hohen Mauern Hebusals zugetrieben wurden. Raz bahnte uns einen Weg, er schrie und schubste und stieß, aber wir hörten nichts, alles wurde vom grässlichen Donner der einstürzenden Häuser und den Schreien der Sterbenden übertönt. Plötzlich verschwand er um eine Ecke und riss Falima und mich aus dem Strom der Fliehenden in eine winzig kleine Dhaba. Die Menge trampelte weiter, direkt in den sicheren Tod. Falima hatte sich verletzt, aber dafür hatten wir keine Zeit. ›Kommt!‹, brüllte Raz und legte sie sich über die Schulter. Er führte uns durch den kleinen Innenraum, vorbei an einer Familie, die sich verängstigt in eine Ecke gekauert hatte. ›Raus! Raus!‹, schrie er, ohne stehen zu bleiben. Schließlich erreichten wir den Innenhof, in dem, so unglaublich es auch war, ein Esel stand und auf seinem Stroh herumkaute. Dann hörte ich ein furchtbares Krachen, als wäre der Boden unter unseren Füßen entzweigebrochen. Die Dhaba stürzte mit einem ohrenbetäubenden Donnern ein, und ein Luftstoß schleuderte mich gegen den Esel, der mir gegen die linke Schulter trat. Ich spürte, wie mein Schulterblatt zerschmettert wurde, ein grässlicher Schmerz. Dann sprang er auf und davon, Gott allein weiß, wohin. Unterdessen zog die Zerstörung weiter, von Haus zu Haus, bis die ganze Welt um uns herum in dichte Staubwolken gehüllt war. Wir husteten und bekamen kaum Luft, und als wir endlich wieder etwas sehen konnten, erkannten wir erst das ganze Ausmaß der Verheerung: Der gesamte Straßenzug war zerstört, niedergerissen von der Magusfrau in dem Skiff, das über unsere Köpfe hinweggefegt war. Bald hörten wir neue Geräusche, andere diesmal, aber mindestens genauso schrecklich: Sie kamen von den Menschen, die unter den Trümmern eingeklemmt waren. Raz kniete am Boden, Falima in seinen Armen. Er blickte mich an. ›Lakh-Mann, du bist noch am Leben!‹, keuchte er. ›Ahm schüt ze uns. Was haben sie getan?‹ Ja, was hatten sie getan? Und warum? Was in aller Welt konnte ein solches Massaker rechtfertigen? Was konnten sie von uns wollen, das nicht durch friedlichen Handel zu bekommen war? Weshalb Krieg? Wo waren Meiros und seine Brückenbauer? Wo waren die Götter, wie konnten sie ein so grausames Verbrechen einfach geschehen lassen? ›Wir müssen weiter‹, sagte Raz. Er erschien mir wie ein Halbgott, so unbeugsam und mutig war er, und sein Glanz strahlte auf mich ab, er gab mir Kraft. Meine Schulter schmerzte entsetzlich, aber ich war entschlossen, nicht zurückzubleiben. Wir kletterten über Schutt und Trümmer und versuchten, nicht an die Hunderten, vielleicht Tausenden zu denken, die darunter begraben waren. Hinter uns fegte das Skiff die Stadtmauer entlang, ließ Feuer und Pfeile auf die Bogenschützen auf der Mauerkrone regnen. Dann schwenkte es wieder um und kam in unsere Richtung, flog genau auf die Gasse zu, zu der wir uns durchschlagen wollten. Wie angewurzelt blieben wir stehen. Die Magusfrau war vielleicht hundert Schritte
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