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Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Titel: Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Hair
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Zweifel und Schmerz, bis sie spürte, wie eine neue Kraft in sie fuhr, sie auf die Beine zog und sie zu einer Musik tanzen ließ, die nur sie hörte. Sie scherte sich nicht um das verdreckte Laken, das ihren Körper kaum bedeckte, denn es war ein Geist in ihren Körper gefahren, der ihre Glieder bewegte. Es war etwas Ursprüngliches, und es war echt: Ramita spürte die Augen der Götter auf sich.
    Endlich sank sie erschöpft in Pashintas Arme. Die Frauen drängten sich um sie, die Augen groß und besorgt. Sie spüren es auch , dachte Ramita.
    Als sie sich wieder beruhigt hatte, zeichnete Guru Dev ein heiliges Tilak auf ihre Stirn. Pandit Arun interpretierte Ramitas Tanz als verheißungsvolles Zeichen. »Nehmt Euch in Acht, ihr Dämonen«, sagte er. »Dieses Mädchen ist stark.«
    Ramita fühlte sich wild und unbezähmbar. Zittre vor mir, Antonin Meiros!
    Den Rest der Woche musste sie zu allen dreiundsiebzig Tempeln Baranasis pilgern. Ramitas Gefolge wurde immer größer, denn immer mehr junge Frauen, die bald heiraten würden, schlossen sich ihr an. Für kurze Zeit wurden Ramita und ihre Entourage fast genauso berühmt wie die vielen Verrückten, die auf den Ghats lebten. Baranasi zog solche Menschen an. »Die von den Göttern Berührten« wurden sie genannt. Pilger kamen und wollten unbedingt den Saum ihres verdreckten Lakens mit der Stirn berühren, denn heiliger Wahnsinn war ein mächtiger Zauber. Die Tempelpriester betrachteten zufrieden die Pilgerströme und sammelten ihre Almosen, Straßenverkäufer kamen hinzu und machten ebenfalls ihr Geschäft.
    Nach Einbruch der Dunkelheit aß sie wie ein halb verhungerter Tiger, dann schlief sie wie eine Tote, um am nächsten Morgen wie ein Zombie wiederaufzustehen. Der einzig halbwegs klare Moment war der, wenn sie ins winterlich kalte Wasser des Imuna stieg. Ramita fühlte sich ausgehöhlt wie eine Kokosnuss, aus der alle Milch gegossen und alles Fruchtfleisch herausgekratzt worden war, um sie mit etwas Neuem, Stärkerem zu füllen. Die Rituale geben mir Kraft, ich spüre es . Kazim schien weit, weit weg.
    Als Ramita zwei Tage vor der Hochzeit wieder nach Hause gebracht wurde, nass und zitternd in der kühlen Morgenluft, erwartete ihre Mutter sie bereits. »Die beiden alten Männer haben dich zu einer Heiligen gemacht«, flüsterte Tanuva. »Und jetzt machen wir eine Braut aus dir. Zuallererst mit Wasser und Essen. Sieh dich an! Ich kann deine Rippen zählen!« Ramita bekam etwas zu essen, dann wurde sie ins Bett geschickt. Und während sie schlief, brummte es im Haus nur so vor Geschäftigkeit.
    Am nächsten Tag stand sie früh auf und half bei der Arbeit. Es gab so viel zu tun. Der Innenhof musste dekoriert und das Pflaster mit Rangoli-Mustern aus Reispuderfarbe bemalt werden. Ramita half Jai mit den Piris, den niedrigen Hockern, auf denen das Brautpaar sitzen würde. Menschen kamen und gingen, brachten Essen, Gewürze und Farbtöpfe. Jeder hatte freundliche Worte für sie, und in all der hektischen Betriebsamkeit und zerbrechlichen Fröhlichkeit kam Ramita sich seltsam entrückt vor. Erst als sie innehielt und ein wenig zu sich selbst kam, spürte sie die Tränen in ihrem Innern. All diese Menschen, sie würde sie so sehr vermissen!
    An diesem Tag ging Ispal mit Jai zu Raz’ Beerdigung. Als sie zurückkamen, hatten sie auch Huriya dabei. Ispal brachte das schluchzende Mädchen direkt zu Ramita und sagte: »Tröste deine Schwester.«
    Huriya blickte Ispal mit glänzenden Augen an: Er hatte sie Ramitas Schwester genannt und Huriya damit einen Platz in der Familie angeboten – für immer. Es kam nicht wirklich unerwartet, aber damit war es offiziell, ihre Gebete waren erhört worden.
    »Meine Schwester«, flüsterte Ramita, als Huriya weinend in ihre Arme sank.
    Huriya drückte ihre Schultern. »Nimm mich mit nach Norden«, murmelte sie.
    Ramitas Kehle wurde trocken. Sie hatte Huriya fragen wollen, aber sie hätte es egoistisch und grausam gefunden, Huriya an einen so schrecklichen Ort wie Hebusal mitzunehmen. Doch jetzt, da sie selbst darum bat … »Natürlich! Ich hätte mich nicht getraut zu fragen.« Gemeinsam weinten sie, während der Rest des Hauses sie geschäftig umschwirrte.
    Sie hoben die Feuerstelle in der Küche aus und bauten sie um, damit sie als Mandap dienen konnte – der Ort, an dem die Hochzeitsschwüre ausgetauscht würden. Über allem lag ein eigenartiger Schatten angespannter Erwartung, ganz anders als bei den anderen Hochzeiten, bei denen sie

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