Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Meiros keinerlei Anstalten machte, die traditionelle Rolle des Mannes in einer lakhischen Hochzeitszeremonie zu erfüllen, kam nicht infrage, dass Ispal und Tanuva ihre älteste Tochter ohne die vorgeschriebenen Rituale und Gebete würden gehen lassen. Alles andere hätte den Zorn der Götter erregt, und das bei einer Ehe, die ohnehin schon unter keinem allzu guten Stern stand. Guru Dev und Pandit Arun, ein dürres Priesterlein, das aussah, als bestünde es nur aus Zweigen und Haaren, wurden zu Rate gezogen, um Ramitas spirituelle Reinigung anzuleiten. Eine Hochzeit mit einem Ungläubigen erforderte spezielle Vorbereitungen. Vikash Nooradin fungierte als Botschafter zwischen Ramitas Familie und ihrem Verlobten und unterrichtete beide Seiten darüber, was erlaubt war und was nicht. Glücklicherweise waren die erfahrenen Vermittler vom Aruna-Nagar-Markt dem alten Ferang mehr als ebenbürtig, und am Ende sollte die Zeremonie nicht allzu weit von der Tradition abweichen, wenn auch viel Fasten und Beten nötig waren.
Ramita verbrachte die meiste Zeit allein in ihrem Zimmer eingeschlossen, während Huriya sich um ihren sterbenden Vater kümmerte. Sie fastete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, wie die Amteh es im heiligen Monat taten. Das Hungern schwächte sie, denn auch wenn es dunkel war, bekam sie nur Käse und Chapati zu essen. Das würde ihren Körper reinigen, hatte man ihr erklärt. Schließlich wurde sie nach unten gerufen, wo die beiden Weisen ihr darlegten, wie die Hochzeitsvorbereitungen aussehen würden. Es war eine ganze Liste mit Aufgaben, und soweit sie es verstand, ging es hauptsächlich darum, praktisch jedem Gott der Omali ein Opfer zu bringen, um sich seiner Gunst zu versichern.
Ramitas Läuterung begann eine Woche vor der Hochzeitszeremonie. Ein ganzer Schwarm Frauen aus der Nachbarschaft, alle in safrangelbe Saris gehüllt, kam noch vor Tagesanbruch zum Haus, um Ramita unter der Führung von Tante Pashinta zu den Ghats zu bringen. Unter einem aus Bettlaken provisorisch zusammengenähten Baldachin schlüpfte Ramita aus ihrem weißen Hemdkleid. Dann watete sie nackt ins kalte Wasser des Imuna und tauchte unter, insgesamt sechs Mal: einmal für Baraman den Erschaffer, dann für seine Frau Sarisa, die Göttin des Lernens und der Musik. Es folgte eine Waschung für Vishnarayan den Beschützer und für seine Gemahlin Laksimi, die Götter des Wohlstands. Die nächste war zu Ehren Sivramans, des Gebieters über Zerstörung und Wiedergeburt, die letzte für seine Frau Parvasi, die Ramitas Vorbild und Patronin für die kommende Zeit war. Tritt in mich ein, heilige Königin. Mach mich zu einem Gefäß deiner Geduld und Tugend. Erfülle mich mit deinem Gehorsam und deiner Treue . Ramita betete mit einer Inbrunst, die sie selbst erschreckte. Als hätten das Fasten, all die Angst und Einsamkeit der letzten Tage einen Teil von ihr zum Leben erweckt, von dessen Existenz sie nie etwas geahnt hatte. Sie war selbst überrascht von dem Wesen, das aus ihr geworden war, das wie in Trance den Frauen vorbetete, die sich um sie versammelt hatten und ihre Worte wiederholten. Und irgendwann nahm Ramita nichts mehr wahr außer ihrer eigenen verzweifelten Suche nach der Kraft, das alles durchzustehen.
Nachdem sie gebadet hatte, wanderte sie am Ufer des Imuna entlang. Bekleidet nur mit einem Tuch, bat sie laut um Schutz vor Dämonen, um Glück und Segen. Die Frauen wiederholten ihre Rufe und sangen Gebete für Aum, den allumfassenden Gott, während Ramita barfuß durch Wasser, Schlamm, verrottenden Abfall und Kuhdung schlurfte, ohne es zu bemerken, bis die Prozession schließlich die Begräbnisfeuer erreichte. Dort erwarteten sie Guru Dev und Pandit Arun in safrangelben Lendenschurzen, die Gesichter mit einem weißen Brei bemalt als Schutz gegen böse Geister.
Die beiden heiligen Männer schaufelten Hände voll Asche von den Begräbnisfeuern auf ihr nasses Haar und verteilten sie über ihr Gesicht. Dann riefen sie Sivraman um Schutz an.
Die Frauen flochten das ascheverklebte Haar zu dicken Knoten. Mit schwieligen Fingern verteilten sie noch weitere Asche auf Ramitas Brüsten und Bauch, um ihre Fruchtbarkeit zu stärken.
Ramita sank auf die Knie und bombardierte Aum mit Gebeten, schrie und kreischte, ohne darauf zu achten, was für einen Anblick sie dabei abgab. Sie fühlte sich leer, und ihr war schwindlig, sie kam sich mehr als nur ein bisschen wahnsinnig vor. Sie schrie ihre Ängste in die Flucht, reinigte sich von
Weitere Kostenlose Bücher