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Die Brücke

Die Brücke

Titel: Die Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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gefühllose
Mißachtung aller Dinge, ausgenommen Sand und Wind.
    »Mock? Mokka?« höre ich mich flüstern, wie ich
zu den gewölbten Steinaugen hochblickte. Der Riese bot mir keine
Hilfe. Auch Namen werden abgetragen, jedoch langsam: zuerst
verändert, dann reduziert, dann vergessen.
    Auf dem Strand vor der Stadt, in einiger Entfernung von dem
steinernen Blick der Statue, fand ich einen Mann. Er war klein und
lahm und bucklig, und er stand bis zu den Knien in der seichten
Brandung. Die Wellen umspülten die dunklen Lumpen, die er trug,
und er schlug mit schweren Ketten auf die Wasseroberfläche ein,
wobei er die ganze Zeit fluchte.
    Sein Kopf war gebeugt unter dem Gewicht seines deformierten
Rückens. Langes, schmutziges Haar hing in verfilzten
Strähnen auf die kabbeligen Wellen hinunter, und manchmal, als
springe plötzlich ein grau-weißes Haar aus dem Zentrum
dieser dunklen Masse hervor, fiel ein langer Speichelfaden ins Wasser
und trieb davon.
    Immerzu hob und senkte sich sein rechter Arm, schlug das Meer mit
seiner Peitsche, einem kurzen schweren Ding mit schimmerndem
hölzernen Griff und einem Dutzend glitzernder, verrosteter
Eisenketten. Das Wasser um ihn schäumte und brodelte unter
diesem unaufhörlichen Angriff und trübte sich von den
Sandkörnern, die von seinem Boden hochgewirbelt wurden.
    Der Bucklige unterbrach sein Werk für einen Augenblick, trat
– krabbenartig – einen Schritt zur Seite, wischte sich den
Mund mit dem Ärmel, begann von neuem, murmelte, während die
schweren Ketten stiegen, fielen, niederplatschten. Ich stand am Ufer
hinter ihm, sah ihm lange Zeit zu. Er setzte wieder aus, wischte sich
noch einmal das Gesicht, tat einen weiteren Schritt zur Seite. Der
Wind blies in seine zerlumpten Kleider, hob kurz sein fettiges,
wirres Haar. Mein loses Gewand flatterte in derselben Bö, und
vielleicht hörte er das durch die Brandung, denn er machte sich
nicht sofort wieder an die Arbeit. Sein Kopf bewegte sich leicht, als
lausche er einem schwachen Geräusch nach. Er bemühte sich,
seinen krummen Rücken zu strecken, gab es auf. Langsam drehte er
sich zu mir um, in einer Folge von kleinen schlurfenden Schritten,
als seien seine Füße mit einer kurzen Kette
zusammengebunden. Dann hob er den Kopf, bis er mich ansehen konnte.
So stand er da, die Wellen brachen sich um seine Knie, der Flegel
hing von der einen knorrigen Hand ins Wasser.
    Sein Gesicht verschwand fast völlig unter der verfilzten
Haarmasse, die sich ihm um den Kopf türmte und wie ein zweiter
ungleichmäßiger Flegel dem Meer zufiel. Sein Ausdruck war
nicht zu deuten. Ich wartete darauf, daß er zu sprechen begann,
aber er stand nur da, stumm, geduldig, bis ich schließlich bat:
»Entschuldigen Sie. Bitte, machen Sie weiter.«
    Er sagte eine Weile gar nichts, gab durch nichts zu erkennen,
daß er mich gehört hatte, als befinde sich zwischen uns
ein langsameres Medium als die Luft. Dann antwortete er
überraschend sanft: »Es ist mein Beruf, wissen Sie. Ich bin
dafür angestellt.«
    Ich nickte. »Oh, ich verstehe.« Ich wartete auf eine
weitere Erklärung.
    Auch diesmal vernahm er meine Worte anscheinend erst lange Zeit,
nachdem ich sie gesprochen hatte. Mit einem schiefen Achselzucken
meinte er: »Sehen Sie, es war einmal ein großer
Kaiser…« Seine Stimme erstarb, und er schwieg wieder eine
Weile. Ich wartete. Er schüttelte den Kopf und drehte sich
schlurfend dem gekrümmten blauen Horizont zu. Ich rief, aber er
zeigte durch nichts an, daß er mich gehört hatte.
    Er fing wieder an, die Wellen zu schlagen und dabei leise und
monoton zu fluchen.
    Ich sah ihm noch ein bißchen länger zu, dann machte ich
kehrt und ging davon. Ein eisernes Armband, das wie der Überrest
einer zugeschnappten Handschelle war – ich hatte es bisher nicht
bemerkt – erzeugte auf meinem Rückweg zu den Ruinen ein
schwaches rhythmisches Klirren an meinem Handgelenk.

 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    Habe ich das tatsächlich geträumt? Die Trümmerstadt
am Meer, den Mann mit der Kettenpeitsche? Ich bin einen Augenblick
lang verwirrt. Habe ich mich gestern abend hingelegt und versucht,
etwas, das ich dem Doktor erzählen könnte,
zusammenzuträumen?
    In der Dunkelheit meines großen warmen Bettes überkommt
mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich lache leise,
übermäßig zufrieden mit mir selbst, daß ich
endlich einen Traum gehabt habe, den ich dem guten Doktor mit reinem
Gewissen erzählen kann. Ich stehe auf und ziehe einen
Morgenmantel

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