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Die Brücke

Die Brücke

Titel: Die Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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über. Das Apartment ist kalt, die graue
Dämmerung schimmert weich durch die hohen Fenster. Ein kleines,
langsam pulsierendes Licht flackert weit draußen auf See unter
einer langen, niedrigen, dunklen Wolkenbank, als sei die Wolke Land
und die langsam blinkende Boje ein Hafensignal.
    Eine Glocke läutet irgendwo weit weg, gefolgt von dem
leiseren Bimmeln, das die Stunde als fünf Uhr anzeigt. Weiter
unten pfeift ein Zug, und ein kaum hörbares, teils
fühlbares Rattern zeugt davon, daß schwerbeladene
Güterzüge vorbeifahren.
    Im Wohnzimmer betrachte ich das graue, unbewegliche Bild des
Mannes in dem Krankenhausbett. Die rauhen Oberflächen der
kleinen Bronze-Skulpturen von Brückenarbeitern, die an
verschiedenen Stellen des Raums aufgestellt sind, reflektieren den
blassen Schein des monochromen Lichts. Plötzlich erscheint eine
Frau, eine Krankenschwester, geräuschlos auf dem Bildschirm und
tritt an das Bett. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen. Anscheinend
mißt sie die Temperatur des Mannes.
    Es ist kein anderes Geräusch zu hören als ein fernes
Zischen. Die Krankenschwester geht auf dem glänzenden
Fußboden um das Bett und überprüft die Maschinen. Sie
verschwindet aus dem Aufnahmebereich der Kamera, kommt mit einem
kleinen Metalltablett zurück. Sie nimmt eine Spritze von dem
Tablett, zieht eine Flüssigkeit aus einem Fläschchen auf,
hält die Nadel hoch, wischt den Arm des blassen Mannes ab und
injiziert ihm das Mittel. Ich sauge Luft durch die Zähne ein;
ich habe Injektionen (dessen bin ich sicher) nie leiden
können.
    Das Bild ist zu körnig, als daß ich richtig sehen
könnte, wie die Nadel die Haut des Mannes durchbohrt, aber in
meiner Phantasie sehe ich die abgeschrägte Spitze der Hohlnadel
und die blasse, weiche, nachgebende Haut… Ich zucke aus
mitfühlendem Schmerz zusammen und schalte das Gerät ab.
    Ich nehme das Kissen vom Telefon. Das Piepen ist noch da, ist
vielleicht ein bißchen schneller geworden. Ich lege den
Hörer auf die Gabel zurück. Im gleichen Augenblick
läutet der Apparat. Ich nehme den Hörer auf, doch statt des
Pieptons höre ich:
    »Ah, Orr, endlich erreiche ich Sie. Sie sind es doch, nicht
wahr?«
    »Ja, Brooke, ich bin es.«
    »Wo sind Sie gewesen?« Seine Stimme klingt
undeutlich.
    »Ich habe geschlafen.«
    »Wo denn? Entschuldigung, dieser Lärm…« Ich
höre brabbelnde Stimmen im Hintergrund.
    »Ich war nirgendwo. Ich habe geschlafen. Oder vielmehr, ich habe…«
    »Geschlafen?« fragt Brooke laut. »Das lasse
ich nicht gelten, Orr. Das lasse ich einfach nicht gelten, tut mir
leid. Wir sind bei Dissy Pitton – in der Bar. Kommen Sie sofort
her; wir haben Ihnen eine Flasche aufgehoben.«
    »Brooke, es ist mitten in der Nacht.«
    »Ach du meine Güte, tatsächlich? Dann ist es ja
gut, daß ich angerufen habe.«
    »Der Morgen dämmert soeben.«
    »Ach, tut er das?« Brookes erstaunte Stimme entfernt
sich vom Telefon. Ich höre ihn etwas rufen. Dem folgt
zustimmendes Gejohle. »Also, beeilen Sie sich, Orr! Nehmen Sie
einen Milchzug oder so etwas! Wir erwarten Sie.«
    »Brooke…«, beginne ich, aber dann höre ich
Brooke wieder vom Telefon weg reden und ein paar ferne Rufe.
    »Oh«, sagt er. »Ja. Und bringen Sie einen Hut mit.
Sie müssen unbedingt einen…« Von neuem Rufe im
Hintergrund. »Oh, es muß ein breitrandiger Hut sein.
Besitzen Sie einen breitrandigen Hut?«
    »Ich…« Ich werde von weiteren Rufen
unterbrochen.
    Brooke brüllt: »Ja, er muß breitrandig sein! Wenn
Sie keinen breitrandigen Hut besitzen, brauchen Sie überhaupt
keinen mitzubringen. Haben Sie einen?«
    »Ich glaube.« Vermutlich habe ich damit mein
Einverständnis erklärt, hinzugehen.
    »Gut«, sagt Brooke. »Bis bald! Vergessen Sie den
Hut nicht!«
    Er legt auf. Ich lege den Hörer hin, hebe ihn wieder ab und
höre von neuem den regelmäßigen Piepton. Ich blicke
hinaus zu dem langsam blinkenden Licht unter der Wolkenbank, zucke
die Achseln und begebe mich in mein Ankleidezimmer.
     
    Dissy Pittons Bar, die sich über mehrere exzentrisch
angeordnete Stockwerke ausbreitet, liegt in einer wenig schicken
Gegend, nur ein paar Decks über der Zug-Ebene. Direkt unter der
niedrigsten Bar ist eine Seilerei, wo Seile und Kabel in einer Reihe
von langen, engen Schuppen gedreht werden. Dementsprechend ist das
Lokal mit Seilen und Kabeln eingerichtet. Alle Tische und Stühle
hängen von den Decken, statt auf den Fußböden zu
stehen. In Dissy Pittons Bar sind, wie Brooke einmal in einem

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