Die Brücken Der Freiheit: Roman
die ältesten Dorfbewohner starben, darunter auch seine Eltern. Am Tag nach dem Tod der Mutter hatte Mack ein Nest mit überwinternden Kaninchen ausgegraben und den noch schlaftrunkenen Tieren die Hälse gebrochen. Ihr Fleisch hatte ihn und Esther gerettet.
Er trat auf die Plattform hinaus, riß die wasserdichte Verpackung von dem Bündel, das er bei sich trug, und holte eine große, aus trockenen Zweigen und Lumpen gefertigte Fackel heraus, ein Knäuel aus derber Schnur sowie eine vergrößerte Version der halbkugeligen Kerzenhalter, wie sie von den Bergleuten benutzt wurden. Letzterer war auf einen flachen hölzernen Untersatz montiert, so daß er nicht umfallen konnte. Mack steckte die Fackel in den Halter und befestigte sie, knüpfte die Schnur an den Untersatz und entzündete mit seiner Kerze die Fackel, welche sofort Feuer fing. Hier draußen bedeutete das keine Gefahr, denn das Gas konnte nach oben entweichen. Der nächste Schritt bestand jedoch darin, die brennende Fackel in den Stollen zu bekommen.
Langsam ließ sich Mack in den Abwasserteich auf dem Schachtgrund hinab. Die mit dem eiskalten Wasser durchtränkten Kleider und Haare bedeuteten einen kleinen zusätzlichen Schutz vor möglichen Verbrennungen. Dann lief er wieder in den Schacht und spulte die Schnur ab. Hie und da räumte er größere Steine und andere Dinge aus dem Weg, die sich beim Nachziehen der Fackel als Hindernisse entpuppen konnten.
Als er wieder bei Esther und Annie anlangte, erkannte er im Licht einer auf dem Boden stehenden Kerze, daß alles fertig war. Die Mulde war ausgehoben. Esther tauchte eine Decke in den Entwässerungsgraben und wickelte Mack darin ein. Zitternd vor Kälte legte er sich in die Mulde, das Ende der Schnur noch immer in der Hand. Annie kniete neben ihm nieder und küßte ihn - womit er nicht gerechnet hatte - voll auf die Lippen. Dann deckte sie die Mulde mit einem schweren Brett ab und schloß ihn ein.
Mack hörte es über sich platschen. Auch das Brett über seiner Mulde wurde von den beiden Frauen noch mit Wasser übergossen. Dies alles diente dem Zweck, ihn vor dem Feuer zu schützen, das er in Kürze entzünden würde. Dann hörte er ein dreimaliges Klopfen, das vereinbarte Zeichen dafür, daß sie sich jetzt entfernen würden.
Er zählte bis hundert, um ihnen genug Zeit zum Verlassen des Stollens zu geben.
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als es soweit war: Er begann die Schnur einzuziehen - und zog damit die brennende Fackel in den Stollen, welcher zur Hälfte mit explosivem Gas gefüllt war.
Jay setzte Lizzie am oberen Ende der Treppe auf den vereisten Matsch vor dem Schachteingang. »Geht's?« fragte er.
»Ich bin heilfroh, daß ich wieder an der frischen Luft bin«, sagte sie dankbar. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen dafür danken kann, daß Sie mich getragen haben. Sie müssen ja vollkommen erschöpft sein.«
»Sie wiegen längst nicht so viel wie ein gefüllter Kohlekorb«, erwiderte er lächelnd.
Obwohl Jay so tat, als habe ihm die Schlepperei nichts ausgemacht, wirkte sein Gang, als er sich vom Schachteinstieg entfernte, ein wenig wacklig. Auf der Treppe hatte er jedoch keinerlei Unsicherheit gezeigt.
Mit der Morgendämmerung war erst in einigen Stunden zu rechnen. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen, und was Lizzie da entgegenblies, waren keine sanften Flocken, sondern von heftigem Wind vorangepeitschte Eispartikel. Unter den letzten Bergarbeitern und Trägerinnen, die aus dem Schacht stiegen, erkannte Lizzie Jen, die junge Frau, deren Kind am Sonntag getauft worden war. Obwohl das Baby nicht viel älter sein konnte als eine Woche, schleppte die arme Frau einen vollen Korb. Sie hätte sich nach der Geburt doch unbedingt erholen müssen, dachte Lizzie. Jen schüttete den Inhalt des Korbes auf die Halde und reichte dem Kontrolleur ein Kerbholz. Wahrscheinlich dienen die Kerben am Wochenende zur Berechnung des Lohns, sagte sich Lizzie. Und vielleicht braucht Jen das Geld so dringend, daß sie sich keine Erholungspause leisten kann.
Lizzie konnte sich nicht von Jens Anblick losreißen. Irgend etwas schien sie zu bedrücken. Die Kerze in Kopfhöhe haltend, lief Jen zwischen den vielleicht siebzig oder achtzig Bergleuten hin und her, versuchte, durch das Schneetreiben etwas zu erkennen, und rief immer wieder: »Wullie! Wullie!« Offenbar vermißte sie ein Kind. Endlich entdeckte sie ihren Mann und wechselte ein paar schnelle, angstvolle Worte mit ihm. Dann schrie sie »Nein!«,
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