Die Brücken Der Freiheit: Roman
fort.
Kapitel 8
DAS GRUBENGAS VERBREITETE SICH mit rasender Geschwindigkeit.
Anfangs war der Blauschimmer in der Flamme nur sichtbar gewesen, wenn man die Kerze auf Deckenhöhe hielt, doch binnen weniger Minuten hatte sich die Situation drastisch verschlechtert. Schon dreißig Zentimeter unterhalb der Stollendecke ließ sich das Warnzeichen beobachten, und Mack mußte seine Überprüfungen einstellen, weil die Gefahr bestand, daß sich das Gas entzündete, ehe die Stollen geräumt waren.
Er atmete kurz und hastig. Angst schnürte ihm die Kehle zu, doch er bemühte sich, ruhig zu bleiben und einen klaren Kopf zu behalten.
Normalerweise entwich das Gas nur ganz allmählich. Diesmal war es anders. Irgend etwas Ungewöhnliches mußte geschehen sein. Die wahrscheinlichste Erklärung bestand darin, daß sich das Grubengas in einem Abschnitt des Bergwerks entwickelt hatte, der bereits ausgebeutet und danach versiegelt worden war. Die Trennwand mußte eingestürzt oder zumindest undicht geworden sein, so daß das Gas sehr schnell in die Stollen eindringen konnte, in denen zur Zeit gearbeitet wurde.
Und jeder Mann und jede Frau unter Tage trug eine brennende Kerze bei sich.
Eine kleine Menge Grubengas ließ sich ohne Gefahr abfackeln. Eine größere, aber begrenzte Menge würde eine Stichflamme auslösen und jeden, der sich in der Nähe aufhielt, verbrennen oder versengen. Ein große Menge Grubengas würde explodieren, alle Menschen unter Tage töten und die Grube zerstören.
Mack atmete tief durch. Die Evakuierung der Stollen hatte jetzt allerhöchste Priorit ät. Er läutete heftig die Handglocke und zählte leise bis zwölf. Als er aufhörte, waren alle Bergarbeiter und Bergarbeiterinnen bereits auf dem Weg zur Treppe, rannten, stolperten, drängelten. Mütter trieben ihre Kinder zu größerer Eile an.
Alles war auf der Flucht, nur er selbst und seine beiden Trägerinnen blieben vorerst zurück. Es waren seine Schwester Esther und seine Kusine Annie. Esther handelte ruhig und wußte genau, was zu tun war. Annie war stark und schnell, aber auch ein wenig ungeschickt und unbedacht. Mit ihren Kohleschaufeln hoben die beiden Frauen, so schnell sie konnten, im Stollenboden eine flache Mulde aus, die so lang und so breit war, daß ein ausgewachsener Mann sich hineinlegen konnte. Mack schnappte sich unterdessen ein in Öltuch einge schnürtes Paket, das an der Decke seiner Strecke hing, und rannte zum Hauptschacht.
Nach dem Tod seiner Eltern hatte es unter den Männern einige Zweifel gegeben, ob Mack bereits alt genug war, das Amt des Feuermanns von seinem Vater zu übernehmen. Abgesehen von der damit verbundenen großen Verantwortung, galt der Feuermann auch in der Gemeinde als eine Art Anführer. Tatsächlich hatte Mack damals sogar die Bedenken seiner Kollegen geteilt. Doch es gab keinen anderen, der diese Aufgabe übernehmen wollte, denn sie war gefährlich und wurde nicht bezahlt.
Nachdem Mack die erste kritische Situation mit Sachkunde und Besonnenheit gemeistert hatte, verstummte das Gerede. Inzwischen war er stolz darauf, daß die älteren Männer ihm vertrauten - doch zwang ihn eben dieser Stolz auch dazu, selbst dann nach außen hin Ruhe und Zuversicht zu zeigen, wenn er innerlich vor Angst zitterte.
Er erreichte den Stolleneingang. Vor ihm rannten die letzten Nachzügler die Treppe hinauf. Macks Aufgabe bestand nun darin, das Gas zu entfernen, und dies war nur möglich, indem man es abfackelte. Er mußte es in Brand setzen.
Daß es ausgerechnet an diesem Tag geschah, war ein böser Zufall. Es war sein Geburtstag, und er wollte fliehen. Er machte sich Vorwürfe. Ich hätte alle Vorsicht in den Wind schlagen und das Tal schon am Sonntagabend verlassen sollen, dachte er. Er wußte, warum er es nicht getan hatte: Die Jamissons sollten sich in falscher Sicherheit wiegen und sich einbilden, er habe sich zum Bleiben entschlossen. Es war eine böse Ironie des Schicksals, daß er ausgerechnet an seinem letzten Tag im Pütt noch einmal sein Leben riskieren mußte, um das Bergwerk zu retten, das er nie wieder betreten wollte.
Wenn es nicht gelang, das Grubengas abzufackeln, mußte das Bergwerk geschlossen werden. Und die Schließung einer Grube bedeutete für die Menschen im Kohlegebiet das gleiche wie eine Mißernte für einen Bauerndorf: Hungersnot. Die letzte Schließung lag vier Jahre zurück. Es war mitten im Winter gewesen. Die schlimmen Wochen danach würde Mack sein Lebtag nicht vergessen. Die jüngsten und
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