Die Brüder Karamasow
mit der anderen Hand den Stößel aus dem Mörser, steckte ihn sich in die Seitentasche und war verschwunden.
»O Gott, er will einen totschlagen!« rief Fenja und schlug die Hände zusammen.
4. In der Dunkelheit
Wohin lief er? Fest steht: Wo sollte sie sein, wenn nicht bei Fjodor Pawlowitsch? Von Samsonow ist sie geradewegs zu ihm gelaufen, jetzt ist alles klar! Die ganze Intrige, der ganze Betrug liegt auf der Hand! ... Dieser Gedanke raste ihm wie ein Wirbelwind durch den Kopf. Zu Marja Kondratjewna auf den Hof wollte er nicht erst laufen. Das hat keinen Zweck, absolut keinen Zweck ... Nicht der geringste Alarm darf entstehen ... Die würde es sofort weitersagen ... Marja Kondratjewna gehört offenbar mit zu der Verschwörung, Smerdjakow ebenfalls, alle sind bestochen! In seinem Kopf entstand ein anderer Plan. Er eilte durch eine Seitengasse in großem Bogen um Fjodor Pawlowitschs Haus herum, lief durch die Dmitrowskajastraße, dann über eine kleine Brücke und gelangte auf diese Weise direkt in die menschenleere, unbewohnte Seitengasse hinter den Häusern, die auf der einen Seite von dem Flechtzaun des benachbarten Gemüsegartens und auf der anderen von dem hohen Plankenzaun um Fjodor Pawlowitschs Garten begrenzt wurde. Dort suchte er sich eine Stelle aus, und zwar offenbar dieselbe, wo einstmals auch Lisaweta, die Stinkende, über den Zaun gestiegen sein sollte. ›Wenn die hinübersteigen konnte‹, ging es ihm, Gott weiß warum, durch den Kopf, ›weshalb sollte ich nicht hinüberkommen?‹ Und wirklich, er sprang hoch und schaffte es gleich beim erstenmal, den oberen Rand des Zaunes mit der Hand zu fassen; danach zog er sich energisch hinauf und setzte sich rittlings auf den Zaun. Nicht weit von dort stand im Garten das Badehäuschen; auch waren vom Zaun aus die erleuchteten Fenster des Hauses zu sehen. ›Es stimmt, beim Alten im Schlafzimmer ist Licht, sie ist da!‹ Und er sprang vom Zaun in den Garten. Obwohl er wußte, daß Grigori krank war und Smerdjakow vielleicht ebenfalls, daß ihn also niemand hören konnte, versteckte er sich doch instinktiv, stand regungslos an einer Stelle und horchte. Aber überall herrschte totes Schweigen; auch die Luft war, wie absichtlich, ganz ruhig, nicht der leiseste Windhauch regte sich.
»Und ringsum flüstert nur die Stille ... » Dieser Vers fiel ihm aus irgendeinem Grund ein. ›Wenn bloß keiner gehört hat, wie ich herübergesprungen bin! Wie es scheint, hat es wirklich keiner gehört ... ›Nachdem er ein Weilchen regungslos gestanden hatte, ging er leise durch den Garten. Es dauerte lange, da er immer wieder hinter Bäumen und Büschen Deckung suchte, bemüht, jeden Schritt unhörbar zu machen, und nach jedem Schritt lauschte. Nach etwa fünf Minuten war er an eines der erleuchteten Fenster gelangt. Er erinnerte sich, daß dort, dicht unter den Fenstern, einige große, dichte Holunder- und Schneeballsträuche standen. Die Tür vom Haus in den Garten, an der linken Seite der Rückwand des Hauses, war geschlossen. Darauf achtete er im Vorbeigehen absichtlich genau. Endlich hatte er die Sträucher erreicht und versteckte sich hinter ihnen. Er atmete unhörbar. ›Ich muß hier warten!‹ dachte er. Wenn sie meine Schritte gehört haben und jetzt horchen, so sollen sie glauben, daß sie sich geirrt haben ... Wenn ich nur nicht husten oder niesen muß!‹
Er wartete etwa zwei Minuten lang; sein Herz schlug furchtbar, und zeitweilig glaubte er zu ersticken. ›Nein, das Herzklopfen wird nicht aufhören‹, dachte er. ›Ich kann nicht länger warten!‹ Er stand hinter einem Strauch im Schatten; die vordere Hälfte des Strauches war vom Fenster her erleuchtet. »Das ist ein Schneeballstrauch, wie rot die Beeren sind!« flüsterte er vor sich hin, ohne zu wissen, warum. Leise, mit unhörbaren Schritten, trat er ans Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen. Fjodor Pawlowitschs Schlafzimmer lag vor Ihm wie auf der flachen Hand. Es war ein kleines Zimmer, durch einen roten Wandschirm, einen »chinesischen Schirm«, wie ihn Fjodor Pawlowitsch nannte, quergeteilt. ›Da ist der chinesische Schirm!‹ schoß es Mitja durch den Kopf. Und da hinter dem Schirm ist Gruschenka!‹ Er betrachtete Fjodor Pawlowitsch. Der trug seinen neuen, gestreiften, seidenen Schlafrock – und die seidene Schnur mit Quasten –, den Mitja noch nie an ihm gesehen hatte. Aus dem Brustaufschlag sah saubere, elegante Wäsche hervor, ein feines Hemd aus holländischem Leinen mit goldenen
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