Die Brüder Karamasow
daß mein ganzer Körper zitterte. Ich stellte mir vor, wie das Kind geschrien und gestöhnt haben mag, so ein vierjähriges Kind begreift ja schon, was man ihm antut – trotzdem konnte ich den Gedanken an das Kompott nicht loswerden. Am Morgen schickte ich einem gewissen Menschen einen Brief und bat ihn, unter allen Umständen zu mir zu kommen. Er kam, und ich erzählte ihm sogleich von dem Jungen und dem Kompott, alles erzählte ich ihm, alles, auch, daß das schön sei. Er lachte und sagte, das sei in der Tat schön. Dann stand er auf und ging. Er hatte nur fünf Minuten bei mir gesessen. Ob er mich verachtet, wie? Sagen Sie mir, Aljoscha, sagen Sie mir! Hat er mich verachtet oder nicht?« Sie richtete sich auf dem Rollstuhl auf, ihre Augen funkelten.
»Sagen Sie«, erwiderte Aljoscha erregt! »Haben Sie ihn selbst rufen lassen, diesen Menschen?«
»Ja.«
»Haben Sie ihm einen Brief geschrieben?«
»Ja.«
»Speziell, um ihn wegen des Kindes zu fragen?«
»Nein, nicht deswegen, durchaus nicht. Aber als er eintrat, fragte ich ihn gleich danach. Er antwortete, lachte, stand auf und ging.«
»Dieser Mensch hat sich ehrenhaft Ihnen gegenüber benommen«, sagte Aljoscha leise.
»Und hat er mich verachtet? Hat er sich über mich lustig gemacht?«
»Nein, denn er glaubt vielleicht selbst an das Ananaskompott. Auch er ist jetzt sehr krank, Lisa.«
»Ja, er glaubt daran!« rief Lisa mit funkelnden Augen.
»Er verachtet niemanden«, fuhr Aljoscha fort! »Er traut nur niemandem. Wenn er aber nicht traut, so verachtet er natürlich.«
»Also auch mich?«
»Auch Sie.«
»Das ist schön«, sagte Lisa und schien dabei mit den Zähnen zu knirschen! »Als er so gelacht hatte und gegangen war, fühlte ich, daß es schön ist, verachtet zu werden. Der Junge mit den abgeschnittenen Fingern ist etwas Schönes und verachtet werden ist auch etwas Schönes ...«
Sie lachte boshaft und erregt Aljoscha ins Gesicht.
»Wissen Sie, Aljoscha, ich möchte ... Aljoscha, retten Sie mich!« rief sie, sprang plötzlich von ihrem Rollstuhl auf, stürzte zu ihm und umschlang ihn fest mit den Armen. Retten Sie mich!« stöhnte sie! »Niemandem in der Welt sage ich das, was ich Ihnen gesagt habe! Ich habe die Wahrheit gesagt, die Wahrheit! Ich werde mich töten, mich ekelt alles an! Ich will nicht weiterleben, denn mich ekelt alles an. Alles, alles! Aljoscha, warum lieben Sie mich so ganz und gar nicht?« schloß sie verzweifelt.
»Doch, ich liebe Sie!« erwiderte Aljoscha feurig.
»Und werden Sie über mich weinen, ja?«
»Ja, das werde ich.«
»Nicht deswegen, weil ich nicht Ihre Frau werden wollte, sondern ganz einfach, werden Sie mich ganz einfach beweinen?«
»Ja, das werde ich.«
»Ich danke Ihnen. Weiter verlange ich nichts. Sollen alle übrigen mich verurteilen und mit Füßen treten, alle, niemand ausgenommen! Denn ich liebe niemanden. Hören Sie, nie-man-den! Im Gegenteil, ich hasse alle! Gehen Sie jetzt, Aljoscha! Es ist Zeit, daß Sie zu Ihrem Bruder gehen!« rief sie und riß sich plötzlich von ihm los.
»Wie kann ich Sie denn in diesem Zustand zurücklassen?« fragte Aljoscha beunruhigt.
»Gehen Sie zu Ihrem Bruder, sonst wird das Gefängnis zugeschlossen. Hier ist Ihr Hut! Küssen Sie Mitja, gehen Sie, gehen Sie!«
Und sie drängte Aljoscha fast mit Gewalt zur Tür. Er sah sie betrübt und ratlos an, da fühlte er plötzlich in seiner rechten Hand einen Brief, ein kleines Briefchen, fest zusammengefaltet und versiegelt. Er warf einen Blick darauf und las in aller Eile: »An Iwan Fjodorowitsch Karamasow,« Rasch sah er Lisa an, ihr Gesicht bekam einen fast drohenden Ausdruck.
»Geben Sie ihn ab, geben Sie ihn bestimmt ab!« befahl sie außer sich. Sie zitterte am ganzen Körper! »Heute noch, gleich! Sonst vergifte ich mich! Nur deswegen habe ich Sie rufen lassen!«
Sie schlug die Tür zu. Klappernd fiel der Sperrhaken in die Öse. Aljoscha steckte den Brief ein und ging, ohne noch einmal bei Frau Chochlakowa vorbeizugehen: Er hatte sie völlig vergessen. Doch kaum hatte sich Aljoscha entfernt, schob Lisa sogleich den Sperrhaken wieder auf, öffnete die Tür ein wenig, steckte ihren Finger in den Spalt und klemmte ihn, die Tür zuschlagend, mit aller Kraft ein. Nach etwa zehn Sekunden befreite sie ihre Hand, ging langsam zurück zu ihrem Rollstuhl, setzte sich, richtete sich gerade auf und starrte unverwandt auf ihren schwarz gewordenen Finger und das unter dem Nagel hervorgepreßte Blut. Mit zitternden Lippen
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