Die Brüder Karamasow
Mensch könnte aus mir entweichen! Man kann auch dort, in den Bergwerken, unter der Erde, neben sich, in einem Sträfling und Mörder ein menschliches Herz finden und ihm nähertreten, auch dort kann man leben und lieben und leiden! Man kann in diesem Sträfling das erstarrte Herz auferwecken und wiederbeleben, man kann ihn jahrelang liebevoll pflegen und endlich eine hohe Seele und einen Geist aus der dunklen Höhle zum Licht emporheben, der sich seines Märtyrertums bewußt ist, man kann einen Engel aus dem Grab erwecken und einen Helden auferstehen lassen! Und ihrer sind viele, ihrer sind Hunderte – und wir alle sind an ihren Sünden schuld! Warum habe ich damals, in einem solchen Augenblick, von dem ›Kindelein‹ geträumt? Warum ist das ›Kindelein‹ arm? Das war seinerzeit für mich eine Prophezeiung! Für das ›Kindelein‹ werde ich nach Sibirien gehen. Denn alle sind wir für alle schuldig. Für alle ›Kindelein‹: es gibt kleine Kinder und große Kinder. Alle sind ›Kindelein‹. Für alle werde ich nach Sibirien gehen, denn einer muß doch für alle hingehen. Ich habe den Vater nicht getötet, trotzdem muß ich hingehen. Ich nehme es auf mich! Mir ist hier diese Erkenntnis aufgegangen ... Hier in diesen kahlen Mauern. Aber es sind ihrer ja viele, es sind ihrer Hunderte dort unter der Erde, mit Hämmern in den Händen. O ja, wir werden in Ketten und ohne Freiheit sein, doch wir werden in unserem großen Leid von neuem zur Freude auferstehen, ohne die der Mensch nicht leben, ja ohne die selbst Gott nicht sein kann, denn Gott spendet Freude: Das ist sein großes Vorrecht ... O Gott, der Mensch muß weich werden im Gebet! Wie könnte ich dort unter der Erde ohne Gott sein? Rakitin lügt: Wenn sie Gott von der Erde vertreiben, werden wir Ihn unter der Erde finden! Für einen Sträfling ist es unmöglich, ohne Gott zu leben, noch unmöglicher als für jemand, der kein Sträfling ist. Und dann werden wir dort unter der Erde unserem Gott aus den Eingeweiden der Erde eine tragische Hymne anstimmen, Ihm, unserem Gott, bei dem die Freude ist! Es lebe Gott und seine Freude! Ich liebe Ihn!«
Während dieser erregten Worte war Mitja ganz außer Atem gekommen. Er war blaß geworden, seine Lippen zitterten, und Tränen traten ihm in die Augen.
»Nein, das Leben hat einen reichen Inhalt, es gibt ein Leben auch unter der Erde!« begann er von neuem! »Du glaubst gar nicht, Alexej, wie mich jetzt verlangt zu leben, was für Durst nach Dasein und Erkenntnis ich gerade innerhalb dieser kahlen Mauern bekommen habe! Rakitin hat dafür kein Verständnis, der will weiter nichts, als sich ein Haus bauen und Mieter hineinnehmen! Was ist schon das Leiden? Ich fürchte es nicht mehr, früher habe ich es gefürchtet. Weißt du, vielleicht werde ich vor Gericht überhaupt keine Antwort geben ... Ich glaube, ich besitze jetzt so viel von dieser Kraft, daß ich alles überwinden werde, alles Leid, nur um mir fortwährend sagen zu können: ich bin! In tausend Qualen bin ich doch! Ich krümme mich unter der Folter, aber ich bin! Ich sitze im Gefängnis, aber ich lebe und sehe die Sonne! Und selbst wenn ich die Sonne nicht sehe, weiß ich doch, daß sie da ist. Und zu wissen, daß die Sonne da ist – das ist schon Leben. Aljoscha, die verschiedenen Philosophien bringen mich um, hol‹ sie alle der Teufel! Bruder Iwan dagegen ...«
»Was ist mit Iwan?« unterbrach ihn Aljoscha, doch Mitja hörte nicht auf ihn.
»Siehst du, früher habe ich von allen diesen Zweifeln nichts gewußt, aber, da lag alles in mir verborgen. Vielleicht gerade weil diese unbestimmten Ideen in mir tobten, trank ich und randalierte und wütete. Um sie in mir zur Ruhe zu bringen, randalierte ich, um sie zu beschwichtigen, zu unterdrücken. Iwan ist anders als Rakitin, er verbirgt seine Ideen. Iwan ist eine Sphinx und schweigt, immerzu schweigt er. Aber mich quält der Gedanke an Gott. Das ist das einzige, was mich quält. Was ist, wenn Er nicht existiert? Wenn Rakitin recht hat, daß das bei der Menschheit nur eine künstliche Idee ist? Wenn Er nicht existiert, ist der Mensch der Herr der Erde und des Weltgebäudes. Ausgezeichnet! Nur: wie will er tugendhaft sein ohne Gott? Das ist die Frage! Daran muß ich immerzu denken. Wen wird er dann lieben, der Mensch? Wem wird er dankbar sein, wem wird er Loblieder singen? Rakitin lacht. Rakitin sagt, man kann die Menschheit auch ohne Gott lieben. Dieser rotzige Schwächling mag das zwar behaupten, doch ich
Weitere Kostenlose Bücher