Die Brüder Karamasow
aber unter außerordentlichen Umständen wird nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt, selbst wo die vollste französische republikanische Freiheit herrscht, immer noch geschlagen wie zu Adams und Evas Zeiten, und das wird auch nie aufhören. Sie jedoch haben es damals auch unter so außerordentlichen Umständen nicht gewagt.«
»Wozu lernst du denn französische Vokabeln?« fragte Iwan und deutete mit dem Kopf auf die Hefte auf dem Tisch.
»Warum sollte ich sie nicht lernen, um meine Bildung zu vervollständigen? Ich denke, daß es vielleicht auch mir noch einmal beschieden sein wird, in jenen glücklichen Gegenden Europas zu leben.«
»Paß auf, du Scheusal!« sagte Iwan; seine Augen funkelten, und er zitterte am ganzen Körper! »Ich fürchte deine Beschuldigungen nicht. Sag gegen mich aus, was du willst! Und wenn ich dich nicht gleich jetzt totgeprügelt habe, so nur deswegen nicht, weil ich dich im Verdacht habe, das Verbrechen begangen zu haben, und dich vor Gericht ziehen werde. Ich werde dich schon entlarven.«
»Aber meiner Ansicht nach werden Sie besser schweigen. Denn was können Sie gegen mich bei meiner völligen Unschuld vorbringen? Und wer wird Ihnen glauben? Sollten Sie jedoch damit anfangen, werde auch ich alles erzählen, denn warum sollte ich mich nicht verteidigen?«
»Meinst du, daß ich dich jetzt fürchte?«
»Mag man auch bei Gericht allem, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, keinen Glauben schenken – das Publikum wird es doch tun, und Sie werden sich schämen müssen.«
»Das bedeutet wohl wieder: ›Auch ein kurzes Gespräch mit einem klugen Menschen ist von Vorteil‹, wie?« fragte Iwan zähneknirschend.
»Da haben Sie es ganz genau getroffen. Also, seien Sie denn auch klug!«
Zitternd vor Empörung stand Iwan Fjodorowitsch auf, zog seinen Überzieher an und verließ schnell die Stube und das Haus, ohne Smerdjakow noch weiter zu antworten oder ihn auch nur anzusehen. Die kühle Abendluft erfrischte ihn. Am Himmel schien hell der Mond. Ein beängstigendes Chaos von Gedanken und Gefühlen brodelte in seiner Seele. ›Soll ich gleich hingehen und Smerdjakow anzeigen? Aber was soll ich gegen ihn vorbringen? Er ist ja unschuldig. Er wird im Gegenteil mich anklagen. In der Tat, warum bin ich damals nach Tschermaschnja gefahren? Warum, ja warum?‹ fragte sich Iwan Fjodorowitsch. ›Ja, allerdings, ich erwartete etwas, da hat er recht ...‹ Und er erinnerte sich zum hundertstenmal, wie er in der letzten Nacht beim Vater von der Treppe aus gehorcht hatte; und diese Erinnerung war jetzt mit einer solchen Qual für ihn verbunden, daß er wie von einem Dolchstoß getroffen stehenblieb. ›Ja, ich habe das damals erwartet, das ist wahr! Ich wollte den Mord, wollte ihn geradezu! Wollte ich den Mord, wollte ich ihn wirklich? Ich muß Smerdjakow totschlagen! Wenn ich es jetzt nicht wage, Smerdjakow totzuschlagen, hat das Leben für mich keinen Wert mehr!‹ Ohne in seiner Wohnung vorbeizugehen, begab sich Iwan Fjodorowitsch dann geradewegs zu Katerina Iwanowna und erschreckte sie durch sein Benehmen; er war wie von Sinnen. Er berichtete ihr sein ganzes Gespräch mit Smerdjakow, vollständig, bis in die geringste Einzelheit, und konnte sich gar nicht beruhigen, wie sehr sie ihn auch zu beschwichtigen suchte; immerzu lief er im Zimmer auf und ab und führte seltsame, zusammenhanglose Reden.
Zuletzt setzte er sich hin, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und sprach folgende seltsamen Sätze aus: »Wenn nicht Dmitri den Mord begangen hat, sondern Smerdjakow, bin ich natürlich mit ihm solidarisch, denn ich habe ihn angestiftet. Ob ich ihn angestiftet habe, weiß ich noch nicht. Doch wenn er den Mord begangen hat und nicht Dmitri, dann bin natürlich auch ich ein Mörder.«
Als Katerina Iwanowna das hörte, stand sie schweigend von ihrem Platz auf, ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine daraufstehende Schatulle, nahm ein Blatt Papier heraus und legte es vor Iwan hin. Dieses Blatt Papier war jenes Schriftstück, von dem Iwan Fjodorowitsch später zu Aljoscha sagte, es beweise mit mathematischer Sicherheit, daß ihr Bruder Dmitri den Vater ermordet habe. Es war ein Brief, den Mitja in betrunkenem Zustand Katerina Iwanowna an jenem Abend geschrieben hatte, als er Aljoscha, der nach der Szene zwischen Katerina Iwanowna und Gruschenka ins Kloster zurückkehrte, auf dem Feld begegnet war. Als Mitja sich damals von Aljoscha getrennt hatte, war er zu Gruschenka
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