Die Brüder Karamasow
ihr verhaftet, vor ihr knieend. Sie lag auf dem Bett; er streckte die Arme nach ihr aus und hatte alles völlig vergessen, daß er niemanden kommen hörte, nicht einmal jene, die ihn verhaften kamen. Er hatte noch keine Zeit gehabt, eine Antwort in seinem Kopf vorzubereiten. Er und sein Verstand waren überrumpelt worden ... Und da sitzt er nun vor seinen Richtern, die über sein Schicksal zu entscheiden haben. Meine Herren Geschworenen, es gibt Augenblicke, wo selbst wir bei der Erfüllung unserer Amtspflicht von Grauen und Mitleid mit dem Verbrecher gepackt werden! Das geschieht angesichts des tierischen Entsetzens, wenn der Verbrecher bereits merkt, daß alles verloren ist, aber trotzdem noch mit uns zu kämpfen beabsichtigt. Das geschieht, wenn sich bei ihm alle Instinkte der Selbsterhaltung zugleich regen und er, um seine Rettung besorgt, uns mit durchdringendem Blick fragend und leidvoll ansieht, wenn er uns und unser Gesicht belauert und unsere Gedanken zu erraten sucht, wenn er wartet, von welcher Seite wir den Schlag gegen ihn führen werden, und in seinem schwer erschütterten Geist sofort tausend Pläne entwirft und dennoch Angst hat zu reden, weil er fürchtet, unversehens ein Wort zuviel zu sagen! Das sind erniedrigende Augenblicke für eine Menschenseele, das ist ihr Leidensweg, das ist das tierische Verlangen, sich zu retten – diese Augenblicke sind entsetzlich und rufen bisweilen sogar bei den Beamten, die die Untersuchung führen, ein aufrichtiges Mitleid mit dem Verbrecher hervor. Und alles das haben wir damals mitangesehen. Anfangs war er wie betäubt, und vor Schrecken entfuhren ihm einige Worte, die ihn stark kompromittierten: ›Blut! Ich habe es verdient!‹ Aber er gewann bald die Herrschaft über sich zurück. Was er sagen und antworten sollte, hatte er vorläufig noch nicht parat; parat hatte er nur ein glattes Leugnen: ›Am Tode meines Vaters bin ich unschuldig!‹ Er dachte wohl: ›Das ist vorläufig mein Zaun; und hinter dem Zaun werde ich vielleicht noch etwas aufrichten, irgendeine Barrikade ...‹ Er beeilt sich, unseren Fragen zuvorkommend, seine ersten kompromittierenden Ausrufe so zu deuten, als meinte er nur, an der Tötung des Dieners Grigori schuld zu sein: ›An diesem Blut trage ich die Schuld. Aber wer hat meinen Vater ermordet, meine Herren, wer hat ihn ermordet? Wer anders konnte ihn ermorden als ich?‹ Beachten Sie das: Er fragt uns, uns, die wir mit dieser Frage zu ihm gekommen sind! Beachten Sie diese vorauseilenden Worte: ›Wer anders als ich?‹ Diese tierische Schlauheit, diese Naivität und Karamasowsche Ungeduld! ›Nicht ich habe den Mord begangen! Untersteht euch nicht zu denken, daß ich es war!‹ sagt er gewissermaßen. ›Ich wollte ihn töten, meine Herren, ich wollte ihn töten‹, bekennt er schleunigst. ›Trotzdem bin ich unschuldig, ich habe ihn nicht getötet!‹ Er gibt zu, daß er ihn hatte töten wollen – das soll heißen: ›Seht, wie aufrichtig ich bin! Da müßt ihr doch um so eher glauben, daß ich ihn nicht getötet habe?‹ Oh, in solchen Fällen wird ein Verbrecher manchmal unglaublich leichtsinnig. Und da stellte ihm einer der verhörenden Beamten, wohl ganz zufällig, auf einmal die höchst harmlose Frage: ›Hat vielleicht Smerdjakow den Mord begangen?‹ Und es geschah, was wir erwartet hatten: Er wurde furchtbar wütend, daß wir ihm zuvorgekommen waren und ihn überrascht hatten, bevor er sich hatte vorbereiten und den richtigen Augenblick herausfinden können, wo es am natürlichsten gewirkt hätte, Smerdjakow ins Spiel zu bringen. Seinem Charakter gemäß stürzte er sich sofort ins entgegengesetzte Extrem und suchte uns von sich aus nach Kräften zu überzeugen, daß Smerdjakow den Mord nicht begangen haben konnte und nicht fähig war, einen Mord zu begehen. Doch wir trauten ihm nicht, sondern sagten uns, das ist nur Schlauheit von seiner Seite; er verzichtet durchaus noch nicht darauf, Smerdjakow ins Spiel zu bringen, im Gegenteil, er wird ihn schon noch hervorholen: Wen sollte er sonst als den Schuldigen hinstellen? Er wird es zu einem anderen Zeitpunkt tun, denn jetzt ist diese Sache einstweilen verdorben. Er wird ihn vielleicht erst morgen hervorholen oder gar erst nach einigen Tagen, wenn er einen geeigneten Moment gefunden hat, um uns zuzurufen: ›Sehen Sie, ich selber bestritt Smerdjakows Schuld mehr als Sie, sicher werden Sie sich daran erinnern? Jetzt aber bin ich zu der Überzeugung gelangt: Er hat den Mord begangen
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