Die Brueder Karamasow
wurde, da ich ja schon zu Hause einen Anfang gemacht hatte. Nachdem ich diesen Weg einmal betreten hatte, konnte ich alles Weitere nicht nur ohne Schwierigkeit, sondern sogar freudig und heiter tun!«
Er hatte aufmerksam zugehört und sah mich nun freundlich an.
»Alles das ist außerordentlich interessant«, sagte er. »Und ich werde noch oft zu Ihnen kommen.«
Seitdem besuchte er mich fast jeden Abend. Und wir wären die besten Freunde geworden, wenn er auch über sich selbst gesprochen hätte. Doch über sich redete er fast kein Wort, er fragte mich nur immer über mich aus. Trotzdem schloß ich ihn ins Herz und teilte ihm vertrauensvoll alle meine Empfindungen mit, weil ich mir sagte: ›Wozu muß ich seine Geheimnisse wissen? Ich sehe auch ohne das, daß er ein braver Mensch ist. Außerdem ist er ein sehr ernsthafter Mensch und mir an Jahren weit voraus, und trotzdem kommt er zu mir und verachtet mich nicht.‹ Ich habe von ihm viel Nützliches gelernt, denn er besaß einen vortrefflichen Verstand.
»Daß das Leben ein Paradies ist«, sagte er einmal zu mir, daran habe ich schon lange gedacht.« Und fügte plötzlich hinzu: »Ich denke ja nur daran.« Er sah mich an und lächelte. »Ich bin fester davon überzeugt als Sie selbst«, sagte er. Sie werden später erfahren, weshalb.«
Ich hörte das und dachte: ›Er will mir gewiß etwas gestehen.‹
»Das Paradies«, sagte er, »liegt in jedem von uns verborgen. Auch in mir verbirgt es sich jetzt, und wenn ich will, wird es gleich morgen in mir erstehen, und zwar für mein ganzes Leben.«
Ich schaute ihn an: Er sprach mit tiefer Rührung und blickte mir geheimnisvoll ins Gesicht, als ob er mich etwas fragen wollte.
»Darüber aber«, fuhr er fort, daß jeder Mensch neben seinen eigenen Sünden an den Sünden aller Menschen schuld ist, darüber urteilen Sie vollkommen richtig, und es ist erstaunlich, wie Sie diesen Gedanken auf einmal in seinem vollen Umfang haben erfassen können. Es ist tatsächlich richtig, daß, sowie die Menschen diesen Gedanken begriffen haben, das Himmelreich für sie beginnen wird, und nicht mehr in sehnsüchtiger Hoffnung, sondern in Wirklichkeit.«
»Aber wann«, rief ich traurig, »wann wird das geschehen? Und wird es überhaupt jemals geschehen? Ist das nicht nur ein schöner Traum?«
»Aber das glauben Sie ja selbst nicht!« erwiderte er. »Sie predigen – und glauben selbst nicht! Seien Sie überzeugt, daß dieser schöne Traum, wie Sie es nennen, unzweifelhaft in Erfüllung gehen wird, glauben Sie das! Nur wird es nicht jetzt gleich geschehen, denn jedes Geschehen hat sein Gesetz. Das ist ein geistiger, ein psychologischer Prozeß. Um der Welt eine neue Gestalt zu geben, müssen die Menschen selbst seelisch einen anderen Weg einschlagen. Ehe nicht jeder wirklich jedem ein Bruder wird, tritt der Zustand der allgemeinen Verbrüderung nicht ein. Durch keine Wissenschaft und durch keinen für die Gemeinsamkeit verheißenen Vorteil werden sich die Menschen dahin bringen lassen, ihr Eigentum und ihre Rechte gleichmäßig untereinander zu verteilen, ohne daß jemand benachteiligt wird. Jeder wird glauben, zuwenig erhalten zu haben, und immer werden sie murren und einander beneiden und vernichten. Sie fragen, wann der glückselige Zustand eintreten wird? Er wird eintreten, doch erst muß die Periode der menschlichen Isolierung ihren Abschluß finden.«
»Welcher Isolierung?« fragte ich.
»Derjenigen«, antwortete er, »die jetzt überall herrscht, besonders in unserem Jahrhundert. Sie hat noch nicht ihren Abschluß gefunden, die Zeit dafür ist noch nicht gekommen. Denn jeder strebt danach, seine Persönlichkeit so stark wie möglich abzusondern; er möchte an sich selbst die Fülle des Lebens erfahren. Dabei ist das Resultat aller seiner Anstrengungen statt der Fülle des Lebens nur völliger Selbstmord, denn statt sein Wesen allseitig zu entfalten, verfällt man in totale Isolierung. Denn in unserem Jahrhundert sondern sich alle als Einzelwesen ab; jeder isoliert sich in seiner Höhle; jeder entfernt sich von dem anderen, verbirgt sich und sein Besitztum – und das Ende ist schließlich, daß er selbst von den Menschen zurückgestoßen wird und selbst die Menschen zurückstößt. Er sammelt in seiner Isolierung Reichtum und denkt: ›Wie stark bin ich jetzt und wie gesichert!‹ Aber er weiß nicht, der Tor, daß er immer mehr in eine selbstmörderische Schwachheit versinkt, je mehr er sammelt. Denn er hat sich daran
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