Die Brueder Karamasow
Rede vom Stuhl aufgesprungen. »Unsinn!« brüllte er plötzlich empört. »Eine freche Lüge! Er konnte die Tür gar nicht offen sehen, weil sie geschlossen war! Er lügt!«
»Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu wiederholen, daß seine Aussage sehr bestimmt war. Er schwankte nicht. Er blieb dabei, wir haben ihn mehrere Male gefragt.«
»Gewiß, ich habe ihn mehrere Male gefragt!« bestätigte auch Nikolai Parfjonowitsch eifrig.
»Eine Lüge, eine Lüge! Das ist entweder eine Verleumdung oder die Halluzination eines Irren!« schrie Mitja weiter. »Es ist ihm einfach im Fieber, infolge des Blutverlustes, so vorgekommen! Und da redet er nun diesen Unsinn!«
»Ja, aber er hat doch die offenstehende Tür nicht erst bemerkt, als er wieder zu sich kam, sondern schon vorher, als er aus dem Seitengebäude in den Garten ging.«
»Das ist eine Lüge, das ist unmöglich! Er verleumdet mich, weil er wütend auf mich ist ... Er konnte es nicht sehen ... Ich bin nicht durch die Tür gelaufen«, sagte Mitja und rang mühsam nach Atem.
Der Staatsanwalt wandte sich an Nikolai Parfjonowitsch und sagte mit besonderem Nachdruck zu ihm: »Zeigen Sie es!«
»Kennen Sie diesen Gegenstand?« fragte Nikolai Parfjonowitsch, wobei er ein großes Kuvert auf den Tisch legte; aus dickem Papier im Kanzleiformat, mit drei noch wohlerhaltenen Siegeln. Das Kuvert selbst war leer und auf der einen Seite aufgerissen; Mitja starrte es mit weitgeöffneten Augen an.
»Das ... muß das Kuvert des Vaters sein«, murmelte er. »Das, in dem die dreitausend Rubel lagen ... Und dann die Aufschrift, erlauben Sie: ›Für mein liebes Küken‹ ... Und da: ›Dreitausend‹!« rief er. »›Dreitausend‹, sehen Sie?«
»Gewiß, wir sehen es, das Geld aber haben wir nicht mehr darin gefunden, das Kuvert war leer und lag auf dem Fußboden am Bett, hinter dem Wandschirm.«
Einige Sekunden stand Mitja wie betäubt da.
»Meine Herren, das ist Smerdjakow gewesen!« schrie er auf einmal aus voller Kehle. »Der hat ihn ermordet, der hat ihn beraubt! Er allein wußte, wo der Alte das Kuvert versteckt hatte ... Er ist es gewesen, jetzt ist es klar!«
»Aber Sie wußten ja auch, daß das Kuvert unter dem Kopfkissen lag.«
»Niemals habe ich das gewußt, ich habe es überhaupt nie gesehen, ich erblicke es jetzt zum erstenmal, vorher habe ich nur von Smerdjakow etwas darüber gehört ... Er allein wußte, wo der Alte es versteckt hatte, ich wußte es nicht ...
Mitja war ganz außer Atem gekommen.
»Und doch haben Sie selbst uns vorhin gesagt, das Kuvert hätte bei Ihrem verstorbenen Vater unter dem Kopfkissen gelegen. Sie sagten ausdrücklich: ›unter dem Kopfkissen‹ – also wußten Sie doch, wo es lag.«
»Wir haben es so auch festgehalten«, fügte Nikolai Parfjonowitsch bestätigend hinzu.
»Unsinn, reiner Unsinn! Ich wußte absolut nicht, daß es unter dem Kopfkissen lag. Und vielleicht hat es überhaupt nicht unter dem Kopfkissen gelegen ... Ich habe aufs Geratewohl gesagt, es hätte unter dem Kopfkissen gelegen ... Was sagt denn Smerdjakow? Haben Sie ihn gefragt, wo es gelegen hat? Was sagt Smerdjakow? Das ist die Hauptsache ... Ich habe absichtlich gelogen, zu meinem Schaden ... Ich habe Ihnen, ohne viel nachzudenken, vorgelogen, es hätte unter dem Kopfkissen gelegen, und das glauben Sie jetzt ... Na, wissen Sie, da kommt einem so ein Wort auf die Zunge, man lügt. Aber gewußt hat es nur Smerdjakow, sonst niemand! Er hat auch mir nicht gesagt, wo es lag! Er ist es gewesen, er muß ihn totgeschlagen haben, hundertprozentig, das ist mir jetzt sonnenklar!« rief Mitja. Er geriet mehr und mehr außer sich, wiederholte sich, redete unzusammenhängend und hastig. »Begreifen Sie das doch, und verhaften Sie ihn so schnell wie möglich! Er hat ihn ermordet, als ich weglief und Grigori bewußtlos dalag, das ist jetzt klar ... Er hat das Signal gegeben, und der Vater hat ihm aufgemacht ... Denn er war auch der einzige, der die Signale kannte, und ohne die Signale hätte der Vater niemandem geöffnet ...«
»Aber Sie vergessen wieder den Umstand«, bemerkte der Staatsanwalt, noch immer in der gleichen gemessenen Weise, nun jedoch schon fast triumphierend, »daß es nicht nötig war, Signale zu geben, wenn die Tür offenstand, schon als Sie sich im Garten befanden ... »
»Die Tür, die Tür!« murmelte Mitja und starrte den Staatsanwalt schweigend an; dann sank er kraftlos auf den Stuhl zurück.
Alle schwiegen.
»Ja, die Tür! Das ist ein Phantom!
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