Die Brueder Karamasow
Katerina Iwanowna einem bereits erwähnten überraschenden Einfall zufolge hatte kommen lassen. Nachdem dieser ihn angehört und untersucht hatte, war er zu der Ansicht gelangt, daß bei Iwan sogar eine Art Zerrüttung des Gehirns vorlag, und hatte sich gar nicht über ein gewisses Geständnis gewundert, das jener ihm, wenn auch widerstrebend, gemacht hatte! »Halluzinationen sind bei Ihrem Zustand sehr wohl möglich«, hatte der Arzt gesagt! »Man müßte sie allerdings erst genau konstatieren ... Überhaupt ist jedoch unbedingt notwendig, daß Sie sich sofort einer ernsthaften Kur unterziehen, sonst könnte die Sache schlimm werden,« Aber Iwan Fjodorowitsch hatte diesen vernünftigen Rat nicht befolgt und verschmäht, sich ins Bett zu legen und sich auszukurieren! »Ich kann ja noch gehen, vorläufig habe ich noch Kraft. Wenn ich zusammenbreche, dann ist es etwas anderes; dann mag mich kurieren, wer da will!« hatte er gesagt und sich über alle Bedenken hinweggesetzt. Und so saß er jetzt da, selbst beinahe schon überzeugt, daß er im Fieber phantasierte, und starrte, wie bereits erwähnt, hartnäckig auf einen gewissen Gegenstand auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Dort sah er jemand sitzen. Derjenige mußte auf eine unerklärliche Weise hereingekommen sein, denn er war noch nicht im Zimmer gewesen, als es Iwan Fjodorowitsch, von Smerdjakow zurückkehrend, betreten hatte. Es war ein Herr, oder besser gesagt, ein russischer Gentleman, nicht mehr jung, »qui frisait la cinquantaine«, wie die Franzosen sagen, mit nicht allzu viel Grau in dem dunklen, ziemlich langen und noch dichten Haar und dem keilförmig geschnittenen Bärtchen. Er trug ein braunes Jackett, das offensichtlich von dem besten Schneider gearbeitet, aber bereits abgetragen war; es mochte vor ungefähr drei Jahren angefertigt sein, war inzwischen jedoch völlig aus der Mode gekommen: Schon seit zwei Jahren trug von den wohlhabenden Herren der besseren Gesellschaft niemand mehr so ein Kleidungsstück. Die Wäsche und die lange, schalartige Krawatte waren wie bei allen eleganten Gentlemen; aber die Wäsche war, wenn man genauer hinsah, etwas unsauber und die breite Krawatte etwas abgewetzt. Die karierten Beinkleider des Gastes saßen vorzüglich, waren allerdings wieder zu hell und zu eng, wie man sie nicht mehr trug; ebenso entsprach auch der weiche weiße Hut, den er mitgebracht hatte, nicht der Jahreszeit. Kurz, der Herr machte den Eindruck einer ziemlich unbemittelten Anständigkeit. Er schien zu der Gattung der einstmals im Müßiggang dahinlebenden Gutsbesitzer zu gehören, wie sie zur Zeit der Leibeigenschaft herrlich und in Freuden lebten. So einer hat die vornehme Welt und die gute Gesellschaft kennengelernt, hat dort früher einmal Beziehungen gehabt und sie vielleicht sogar bis jetzt aufrechterhalten, ist aber infolge eines fidelen Lebens in der Jugend und infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft allmählich verarmt und hat sich in einen vagabundierenden besseren Schmarotzer verwandelt, der bei seinen guten alten Bekannten gnädig aufgenommen wird wegen seines verträglichen Charakters und weil er immerhin doch ein anständiger Mensch ist, dem man sogar in Gesellschaft vornehmer Gäste einen Platz am Tisch anweisen kann, wenn auch nur einen bescheidenen Platz. Solche verträglichen Schmarotzer können meist gut erzählen und beim Kartenspiel ihren Mann stehen, lassen sich jedoch höchst ungern mit irgendwelchen Aufträgen behelligen. Sie sind gewöhnlich alleinstehende Leute, Junggesellen oder Witwer, haben vielleicht auch Kinder; aber ihre Kinder werden immer irgendwo in der Ferne erzogen, bei irgendwelchen Tanten, von denen der Gentleman in anständiger Gesellschaft kaum spricht, als ob er sich einer solchen Verwandtschaft ein bißchen schäme. Von seinen Kindern entwöhnt er sich allmählich ganz; er erhält von ihnen nur ab und zu zum Namenstag und zu Weihnachten Gratulationsbriefe, die er manchmal sogar beantwortet. Der Gesichtsausdruck des unerwarteten Gastes war nicht eigentlich gutmütig, doch verträglich und zeigte die Bereitwilligkeit zu einem entsprechend den Umständen liebenswürdigen Benehmen. Eine Uhr trug er nicht, wohl aber eine Schildpattlorgnette an schwarzem Band. Am Mittelfinger der rechten Hand prangte ein schwerer goldener Ring mit einem billigen Opal. Iwan Fjodorowitsch schwieg ärgerlich und wollte kein Gespräch beginnen. Der Gast wartete und saß wirklich da wie ein Schmarotzer, der soeben von oben,
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