Die Brüder Karamasow
im Gedächtnis behalten habe. Ich erinnere mich, daß ich einmal zu ihm ins Zimmer kam, als niemand bei ihm war. Es war eine klare Abendstunde, die Sonne neigte sich zum Untergang und erleuchtete das ganze Zimmer mit ihren schrägen Strahlen. Als er mich sah, winkte er mich heran, ich trat zu ihm. Er faßte mich mit beiden Händen an den Schultern und sah mir liebevoll ins Gesicht. Er sprach nichts, sah mich nur ungefähr eine Minute so an, dann sagte er: »Nun, jetzt geh und spiele und lebe für mich!« Ich ging damals hinaus und spielte. Aber in meinem späteren Leben habe ich mich oftmals unter Tränen erinnert, wie er mich geheißen hatte, für ihn zu leben. Er sagte noch viele solche wunderbare und schöne, für uns damals allerdings unverständliche Worte. Er starb in der dritten Woche nach Ostern, bei vollem Bewußtsein, und wenn er auch nicht mehr reden konnte, veränderte er sich bis zu seiner letzten Stunde nicht mehr. Sein Gesicht hatte einen freudigen Ausdruck, seine Augen glänzten heiter, mit seinen Blicken suchte er uns, lächelte er uns zu, rief er uns. Sogar in der Stadt wurde viel über sein Ende gesprochen. Alles das hat mich damals erschüttert, aber nicht allzusehr, obgleich ich bei seinem Begräbnis schrecklich geweint habe. Ich war noch zu jung, ein Kind, doch blieb das alles unauslöschlich in meinem Herzen: Das Gefühl lag verborgen. Zur rechten Zeit mußte alles wiedererstehen und zu neuem Klang erweckt werden. So ist es denn auch geschehen.
b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Vaters Sossima
Ich blieb damals mit meiner Mutter allein zurück. Bald darauf rieten ihr gute Bekannte: »Sie haben nur noch einen Sohn, und Sie sind nicht arm, Sie besitzen etwas Vermögen; warum sollten Sie Ihren Sohn nicht wie andere Leute nach Petersburg schicken? Wenn Sie ihn hierbehalten, berauben Sie ihn vielleicht einer glänzenden Zukunft.« Und sie empfahlen meiner Mutter, mich nach Petersburg ins Kadettenkorps zu schicken, damit ich später in die Kaiserliche Garde eintreten könnte. Meine Mutter schwankte lange, ob sie sich von ihrem letzten Sohn trennen sollte. Aber sie entschloß sich doch dazu, allerdings nicht ohne viele Tränen, weil sie mir dadurch zu meinem Glück zu verhelfen glaubte. Sie fuhr mit mir nach Petersburg – und seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen. Denn drei Jahre später starb sie selbst, und die ganzen drei Jahre hatte sie sich um uns beide gegrämt und für mich gezittert. Aus dem Elternhaus habe ich die kostbarsten Erinnerungen mitgenommen. Es gibt für den Menschen keine kostbareren Erinnerungen als die an seine erste Kindheit im Elternhaus, und das ist fast immer so, wenn in einer Familie auch nur ein bißchen Liebe und Eintracht vorhanden ist. Ja, selbst an die schlechteste Familie können sich kostbare Erinnerungen erhalten, wenn deine eigene Seele nur fähig ist, das Kostbare zu suchen. Zu den Erinnerungen an das Elternhaus rechne ich auch die Erinnerungen an die Biblische Geschichte; sie kennenzulernen brachte mir im Elternhaus, obwohl ich noch ein kleines Kind war, die größte Freude. Ich hatte damals ein Buch, die Biblische Geschichte, mit schönen Bildern; es führte den Titel »Hundertvier biblische Geschichten des Alten und Neuen Testaments.« Anhand dieses Buches lernte ich auch lesen. Auch jetzt habe ich es hier auf dem Bücherbrett liegen, ich bewahre es als wertvolles Andenken auf. Ich erinnere mich, wie mich zum erstenmal eine tiefe Ergriffenheit überkam, noch bevor ich lesen gelernt hatte; ich war damals erst acht Jahre alt. Meine Mutter nahm mich am Montag der Karwoche zur Messe mit in die Kirche; ich war allein – wo mein Bruder damals war, daran kann ich mich nicht erinnern. Es war ein heller Tag, und wenn ich jetzt zurückdenke, so sehe ich abermals ganz deutlich, wie der Weihrauch aus dem Räucherfaß quoll und sacht nach oben stieg; und oben, in der Kuppel, strömten durch ein schmales Fensterchen die Strahlen der Gottessonne nur so in die Kirche und auf uns hernieder und sogen den aufsteigenden Weihrauch gleichsam in sich auf. Ich sah das und war ergriffen, und zum erstenmal seit meiner Geburt nahm ich damals das Samenkorn des Wortes Gottes mit Bewußtsein in meine Seele auf. Ein junger Ministrant mit einem großen Buch schritt bis in die Mitte der Kirche; das Buch war so groß, daß er es, wie mir damals schien, nur mit Mühe tragen konnte. Er legte es auf ein Lesepult, schlug es auf und begann zu lesen, und auf einmal, zum erstenmal in meinem
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