Die Brüder Karamasow
»Mein lieber Sohn, was hast du denn für Freude am Leben, wenn du in der Nacht vor Fieber glühst und hustest, daß dir fast die Brust zerspringt?« – »Mama«, antwortete er ihr, »weine nicht. Das Leben ist ein Paradies; wir sind alle im Paradies und wollen es nur nicht wahrhaben. Wenn wir es wahrhaben wollten, würde gleich morgen auf der ganzen Welt das Paradies anheben.« Alle staunten über seine Worte, alle waren gerührt und weinten, so seltsam und so nachdrücklich hatte er gesprochen. Es kamen Bekannte zu uns. »Liebe teure Menschen«, sagte er zu ihnen, »wodurch habe ich es verdient, daß Sie mich, einen solchen Menschen, lieben? Und wie ist es nur möglich, daß ich das früher nicht erkannt und nicht zu schätzen gewußt habe?« Zu den Dienstboten sagte er häufig: »Meine Lieben, Teuren, weswegen dient ihr mir? Bin ich das denn wert, daß ihr mir dient? Wenn Gott sich meiner erbarmen und mich leben lassen würde, dann möchte ich euch dienen, denn wir müssen alle einander dienen.« Als die Mutter das hörte, schüttelte sie den Kopf. »Du mein teurer Sohn, du redest so, weil du krank bist!« – »Mama, du meine Freude«, sagte er, »es muß ja wohl Herren und Diener geben. Aber auch ich will der Diener meiner Diener sein, so wie sie die meinigen sind. Und noch eins will ich dir sagen, liebe Mutter. Jeder von uns trägt allen gegenüber an allem Schuld, und ich mehr als alle.« Die Mutter lächelte darüber sogar, sie weinte und lächelte zugleich. »Nun«, sagte sie, »inwiefern trägst du denn allen gegenüber mehr Schuld als alle? Es gibt Mörder und Räuber, was hast du schon gesündigt, daß du dir mehr Schuld beimißt als allen anderen?« – »Liebe Mutter, du mein Blutströpfchen«, sagte er; solche Kosenamen begann er damals zu unserer Überraschung zu gebrauchen. »Du sollst wissen, mein liebes, fröhliches Blutströpfchen, daß in Wahrheit ein jeder allen gegenüber an allem Schuld trägt. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, doch ich fühle, fühle es qualvoll und schmerzhaft, daß es so ist. Wie haben wir früher nur so leben können – im Zorn und ohne Wissen!« So waren denn jeden Tag beim Aufstehen seine Rührung und seine Freude größer und größer; er zitterte geradezu vor Liebe. Manchmal, wenn der Arzt kam, ein alter Deutscher namens Eisenschmidt, sagte der Kranke scherzend zu ihm: »Nun, wie steht's, Doktor? Werde ich noch einen Tag auf dieser Weit leben?« – »Sie werden nicht nur einen Tag sondern noch viele Tage auf dieser Welt leben«, antwortete der Arzt. Monate und Jahre werden Sie noch leben!« – »Wozu noch Jahre und Monate!« rief er dann manchmal. »Wozu die Tage zählen, wo doch ein einziger Tag für den Menschen ausreicht, um das volle Glück kennenzulernen? Meine Lieben, warum streiten wir, warum prahlen wir, warum tragen wir einander Kränkungen nach? Laßt uns einfach in den Garten gehen und spazieren und umhertollen und einander lieben und loben und küssen und unser Leben glücklich preisen!« – »Ihr Sohn wird nicht mehr lange leben«, sagte der Arzt zur Mutter, als sie ihn zur Haustür begleitete. »Infolge der Krankheit ist eine geistige Störung eingetreten.« Die Fenster seines Zimmers gingen auf den Garten hinaus. Unser Garten war schattig, von alten Bäumen bestanden; an den Bäumen kamen die Frühlingsknospen hervor, und am Morgen kamen die Vögel geflogen, zwitscherten und sangen ihm in die Fenster. Und wie er sie so ansah und sich über sie freute, begann er auf einmal auch sie um Verzeihung zu bitten: »Ihr Vöglein Gottes, ihr fröhlichen Vöglein, verzeiht auch ihr mir, denn auch vor euch habe ich mich versündigt.« Das konnte nun niemand von uns verstehen. Er aber weinte vor Freude. »Ja«, sagte er, »es war eine solche Gottespracht um mich herum, die Vögelchen und die Bäume und die Wiesen und der Himmel! Ich allein lebte in Schande, ich allein entehrte alles und bemerkte all die Schönheit und Pracht gar nicht.« – »Du wirfst dir gar zu viele Sünden vor« sagte die Mutter manchmal weinend. »Liebe Mutter, du meine Freude, ich weine ja vor Glück, nicht vor Kummer! Es verlangt mich ja selbst, ihnen gegenüber Schuld zu tragen. Ich kann es dir nur nicht erklären, denn ich weiß nicht, wie ich sie nur lieben soll. Mag ich mich auch ihnen gegenüber versündigt haben, dafür werden sie mir alle verzeihen – und das ist eben das Paradies. Bin ich denn jetzt nicht im Paradies?«
Und so sagte er noch vieles, was ich nicht
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