Die Brüder Karamasow
Leben, verstand ich damals, was im Gotteshaus gelesen wird. Es war ein Mann im Lande Uz, der war gerecht und gottesfürchtig und besaß so und so großen Reichtum, so und so viele Kamele, so und so viele Schafe und Esel, und seine Kinder lebten in Freuden, und er liebte sie sehr und betete für sie, denn er dachte: Vielleicht haben sie gesündigt, während sie sich vergnügten. Und da kam zu Gott der Teufel, zusammen mit den Söhnen Gottes, und sagte zum Herrn, er habe die ganze Erde durchzogen. »Hast du meinen Knecht Hiob gesehen?« fragte ihn Gott. Und Gott rühmte sich dem Teufel gegenüber, indem er auf diesen seinen großen frommen Knecht hinwies. Der Teufel aber lächelte zu diesen Worten Gottes und sagte: »Überlaß ihn mir, und du wirst sehen, daß dein Knecht gegen dich murren und deinen Namen verfluchen wird.« Und Gott überließ seinen Gerechten, den Er so sehr liebte, dem Teufel, und der Teufel erschlug seine Kinder und sein Vieh und vernichtete seinen Reichtum, alles mit einemmal, wie durch Gottes Donner. Und Hiob zerriß seine Kleider und warf sich auf die Erde und rief: »Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen, nackt werde ich in die Erde zurückkehren. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt von nun an bis in Ewigkeit!« Ihr meine Väter und Lehrer, verzeiht mir die Tränen, die ich jetzt weine! Meine ganze Kindheit ersteht gleichsam neu vor meinem geistigen Auge, und ich atme jetzt so, wie ich damals als Achtjähriger mit meiner Kinderbrust atmete, und fühle wie damals Staunen und Verwirrung und Freude. Die Kamele beschäftigten damals meine Einbildungskraft, und der Satan, der so mit Gott spricht, und Gott, der seinen Knecht dem Verderben preisgibt, und auch sein Knecht, der ausruft: »Gelobt sei dein Name, obwohl du mich züchtigst!« Und dann ertönte im Gotteshaus der leise, süße Gesang: »Möge mein Gebet Erhörung finden!« Und von neuem quoll der Weihrauch aus dem Gefäß des Geistlichen, und alles beugte die Knie und betete! Seitdem kann ich diese hochheilige Erzählung nicht ohne Tränen lesen, gestern erst habe ich sie zur Hand genommen. Wieviel Hohes, Geheimnisvolles, Unfaßbares enthält sie aber auch! Ich habe später Schmäher und Spötter stolze Worte sagen hören: »Wie konnte Gott seinen Liebling unter den Frommen dem Teufel zur Kurzweil ausliefern, ihm seine Kinder nehmen und ihn selbst so mit Krankheit und Geschwüren schlagen, daß er sich mit einer Scherbe den Eiter von den Wunden abkratzen mußte! Und wozu? Nur um sich vor dem Satan rühmen zu können! ›Da siehst du, was mein frommer Knecht um meinetwillen ertragen kann!‹« Aber darin besteht ja gerade die Größe, daß hier ein Geheimnis vorliegt: daß sich vergängliche irdische Erscheinung und ewige Wahrheit hier berühren. Vorrang vor der irdischen Gerechtigkeit hat die ewige Gerechtigkeit. Wie der Schöpfer jeden der ersten Schöpfungstage mit dem Lob beschloß: »Was ich geschaffen habe, ist gut«, so blickt Er hier auf Hiob und rühmt sich von neuem seines Geschöpfes. Hiob aber dient, indem er Gott lobt, nicht nur Ihm, sondern seiner ganzen Schöpfung, von Geschlecht zu Geschlecht und in alle Ewigkeit, denn eben dazu war er von jeher bestimmt. O Gott, was ist das für ein Buch, und was für Lehren enthält es! Was für ein Buch ist die Heilige Schrift, welche wunderbaren Kräfte werden dem Menschen durch sie verliehen! Sie ist gewissermaßen ein Bild der Welt und des Menschen und der menschlichen Charaktere, und alles ist darin benannt und ausgewiesen für alle Ewigkeit. Und wie viele Geheimnisse sind darin enthüllt und aufgedeckt: Gott richtet Hiob wieder auf und gibt ihm neuen Reichtum; es vergehen erneut viele Jahre, und siehe da, er hat schon wieder Kinder, andere Kinder und liebt sie ... O Gott, man möchte fragen: Wie konnte er nur diese anderen Kinder liebgewinnen, da die früheren nicht mehr lebten und er ihrer beraubt war? Und wie lieb ihm auch die neuen sein mochten – konnte er mit ihnen glücklich sein wie früher, wenn er an die früheren zurückdachte? Aber man kann das, man kann das: Das alte Leid geht durch einen großen, geheimnisvollen Vorgang des Menschenlebens allmählich über in eine stille, wehmütige Freude; an die Stelle des jungen, heißen Blutes tritt das milde, klare Alter. Ich segne den täglichen Aufgang der Sonne, und mein Herz lobsingt ihm wie früher; noch mehr jedoch liebe ich schon ihren Untergang, ihre langen schrägen
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